Im Rausch


In Nordamerika boomt der Cannabismarkt. Es ist ein Milliardengeschäft. Inzwischen können in Deutschland zumindest Schmerzpatienten auf Rezept kiffen. Wer profitiert davon?

Die 30 Kilo Cannabis, die an diesem verregneten Junimittwoch in einem Berliner Außenbezirk bei der Firma Pedanios angeliefert werden, überwacht fortan die Polizei. Der Stoff lagert in Dosen verpackt in einem Tresor. Denn nicht nur bei Kiffern könnte der Inhalt Begehrlichkeiten wecken. Zehn Kilo Cannabis haben einen Warenwert von mehr als 100 000 Euro. Deswegen will die Firma ihre Adresse nicht nennen, und deswegen ist die Alarmanlage direkt mit der nächsten Polizeidienststelle verbunden. „Das ist das gleiche System wie in der Wohnung von Angela Merkel“, sagt Patrick Hoffmann und grinst.

Hoffmann, 38, hat Pedanios vor zwei Jahren mit seinem Kumpel Florian Holzapfel, 41, gegründet. Sie importieren Cannabisblüten aus den Niederlanden und Kanada nach Deutschland. Völlig legal. Und beide haben richtig gute Laune. Spätestens seit dem 10. März verkauft sich ihr Produkt wie von selbst. Denn an dem Tag trat in Deutschland das neue Gesetz „Cannabis als Medizin“ in Kraft. Schwer Erkrankte können seitdem in Apotheken Cannabis auf Rezept kaufen. Vorher war das nur mit Ausnahmeregelungen möglich. Für Pedanios bedeutet dies, dass nun ständig Apotheker bei ihnen anrufen, um Nachschub zu bestellen. „Im gesamten Jahr 2016 haben wir 100 Kilo verkauft, nun allein im vergangenen Monat 60“, sagt Florian Holzapfel.

Es ist eine Revolution. Erstmals gibt es in Deutschland einen legalen Markt für Drogen. Auch wenn er im Vergleich zum illegalen Markt noch winzig ist. Weltweit, so schätzt das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, beträgt der Umsatz des Drogenhandels 330 Milliarden Dollar pro Jahr, in Deutschland 2,5 Milliarden Euro. Das ist doppelt so viel, wie die Deutschen für Schokolade ausgeben. Der größte Teil des Umsatzes entfällt auf Cannabis.

Hoffmann und Holzapfel schwören, dass sie ihren Stoff selbst nicht anrühren, das würde schnell strafrechtliche Konsequenzen haben. Und doch leben sie zurzeit wie im Rausch. Beide haben die deutsche Geschäftswelt gehörig durcheinandergewirbelt. Den ersten Coup haben sie schon gelandet. Kurz nachdem das Cannabisgesetz in Kraft trat, kaufte das kanadische Unternehmen Aurora, ein großer Player auf dem dortigen Markt, ihre Firma für 15,7 Millionen Euro.

Die Idee der Berliner Gründer, mit der ebenso oft verherrlichten und verteufelten Substanz legal Geld zu verdienen, hat einen traurigen Hintergrund. Holzapfels Mutter ist schwer erkrankt. Das Einzige, was ihre chronischen Schmerzen halbwegs erträglich macht, ist Cannabis. „Aber das war erstens zu teuer und zweitens fast nirgends zu kriegen“, sagt Holzapfel. Früher war er Vorstand beim insolventen Solarzellenhersteller Q-Cells. Als der große Kommunikationskonzern, bei dem Hoffmann arbeitete, Stellen reduzierte, taten sich beide zusammen. „Wir haben gesehen, dass es eine massive Unterversorgung gibt, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Wir wollten sicherstellen, dass das Cannabis den Patienten jederzeit zur Verfügung steht“, erläutert Hoffmann.

Also arbeiteten sie sich durch das Betäubungsmittelgesetz, durch Bestimmungen für die Einfuhr illegaler Substanzen und, und, und. Sie schrieben Briefe nach Holland, wo die Firma Bedrocan vom Staat lizensiert Pflanzen anbaut und die Blüten als Medizin verkauft, und nach Kanada, wo es gleich mehrere Firmen dafür gibt. Irgendwann war es dann so weit, dass sie die Blüten nach Deutschland importieren konnten, vorher hatte das nur eine andere niederländische Firma gemacht. Als dann die erste Lieferung aus Kanada kommen sollte, rief Hoffmann beim Zoll an, um Bescheid zu geben. „Die haben gesagt, ‚Cannabis? Herr Hoffmann, was ist denn die Zollnummer‘ – das wusste ich nicht. Es gibt keine Zollnummer für Cannabis. Das ist ja eine nicht verkehrsfähige Substanz. Dann haben sie in ihrem Katalog geblättert und gefragt, wie es mit Schnittblumen wäre. Also haben die das am Anfang als getrocknete Schnittblumen abgefertigt. Das Ganze hatte eben noch keiner gemacht.“

Inzwischen wollen viele mitmischen. Sie spekulieren darauf, dass auch in Deutschland Cannabis das Big Business wird, das es in den USA und Kanada schon ist. Dort wird, seit die Gesetze über Besitz und Herstellung des Stoffes immer weiter gelockert wurden, bereits über einen Cannabisgoldrausch spekuliert. Anleger investieren in alles, was irgendetwas mit Gras zu tun hat. Paypal-Gründer Peter Thiel etwa steckte mehr als 50 Millionen Dollar in Cannabisfirmen. Kanadische Unternehmen, die vom Staat mit dem Anbau der Pflanzen lizensiert wurden, bewirtschaften inzwischen riesige Felder. Sie haben teilweise einen Wert von mehr als einer Milliarde Dollar. Andere sind immerhin die Hälfte davon wert, ohne bisher ein Gramm verkauft zu haben.

Der nordamerikanische Markt ist riesig und wächst rasant. Jeder achte erwachsene Amerikaner konsumiert derzeit Cannabis, fast jeder zweite hat schon einmal probiert. Die Legalisierung schreitet in hohem Tempo voran. Bereits in fünf US-Bundesstaaten ist der Handel für den privaten Konsum erlaubt. Experten schätzen den gesamten Jahresumsatz mit Cannabisprodukten dort auf mehr als sechs Milliarden Dollar, und 2018 werden in Kalifornien die ersten Cannabisläden für nichtmedizinische Konsumenten eröffnet. Allein dort könnten bald 40 Prozent des amerikanischen Marktes umgesetzt werden. In Kanada hat Premierminister Justin Trudeau sein Wahlversprechen wahr gemacht und den Gesetzgebungsprozess für die Legalisierung eingeleitet. Bereits in einem Jahr können sich Kiffer dort ohne medizinische Sondergenehmigung in der Öffentlichkeit mit ihrem eigenen Gras einen Joint drehen und dann rauchen.

Die deutsche Cannabisrevolution fällt dagegen zwar etwas kleiner aus. Aber auch hier passiert etwas, was man sich noch vor ein paar Jahren niemals hätte vorstellen können: Der Staat wird zum Dealer, gewissermaßen. Das Gesetz vom 10. März wird flan­kiert von der Gründung einer staatlichen Cannabisagentur. Die untersteht dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und soll den Anbau steuern und kontrollieren. Das heißt: Die Agentur wird das Gras von lizensierten Herstellern in Deutschland garantiert abnehmen, einen Preis festlegen und dann an Apotheken und Großhändler verkaufen. Die Bundesregierung tat das nicht ganz freiwillig. Die Patienten begannen, sich das Recht zu erklagen, für den Eigenbedarf Hanf zu Hause anzubauen. Da war der staatlich kontrollierte Drogenanbau das kleinere Übel.

Gerade läuft die Ausschreibung für die Lizenzen, sieben soll es geben, rund 150 Interessenten sollen ihre Bewerbungen eingereicht haben. Die Sache hat aber einen entscheidenden Haken. Berücksichtigt werden nur Firmen, die bereits drei Jahre Erfahrung im Anbau von Cannabis nachweisen können. Wer eine solche in Deutschland erworben hat, muss illegal gehandelt haben. Also streben die Bewerber Partnerschaften mit internationalen Firmen aus den Ländern an, in denen der Anbau bereits legal ist, also in den Niederlanden, in Kanada und in Israel.

In der Branche wird kräftig darüber spekuliert, wer dabei ist und wer nicht. Auch wenn die Unternehmung wirtschaftlich in der jetzigen Form nicht besonders lukrativ ist.

Klaus Häußermann, der Firmen im Umgang mit Betäubungsmitteln berät, empfiehlt diesen dann auch, dass sie bei der Ausschreibung lieber nicht mitmachen sollten. Denn die Herstellung von qualitätsgesichertem Cannabis sei extrem aufwendig. Man brauche einen Hochsicherheitsbunker, eine Gärtnerei und habe hohe Stromkosten, weil die Pflanzen über viele Stunden beleuchtet werden müssen. Das könnte bis zu 20 Millionen Euro kosten, die Lizenz aber schon nach fünfeinhalb Jahren auslaufen. Wenn man die nicht erneut erhalte, „kann man den Hochsicherheitsbunker auch sprengen, was anderes Sinnvolles kann man da nicht machen“. Indem man die Vorgaben so streng gemacht habe, hätte man praktisch einheimischen Firmen die Chance genommen, eigenständig ein Geschäftsfeld aufzubauen.

Ausländische Firmen, vor allem aus Kanada, hält das aber nicht ab. Ihr Erfahrungsvorsprung verschafft ihnen einen wichtigen Startvorteil. Zudem könnte Deutschland für sie das sein, als was Cannabis oft gescholten wurde. Der Einstieg, aber nicht in den Drogenkonsum, sondern in den europäischen Markt. Bisher darf Kanada seine Produkte nicht exportieren. Deutschland sei nur der erste Dominostein, sagte der kanadische Analyst Jason Sandberg dem Magazin Vice. Er sei überzeugt davon, dass bald andere EU-Mitgliedsländer dem deutschen Modell folgen würden. Bruce Linton, CEO der Firma Canopy Growth, sieht dies offenbar ähnlich. Es wäre sinnvoll, jetzt zu investieren, sagte er dem Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg.

Ein weiterer Faktor, der den deutschen Markt so interessant macht: die gute alte Krankenkasse. Denn das Cannabisgesetz verpflichtet sie, die auf Rezept ausgegebenen Medikamente zu bezahlen. Das ist nicht ohne. 22 Euro kostet derzeit ein Gramm Cannabis in der Apotheke. Pro Monat darf man 100 Gramm legal beziehen, manch ein Schmerzpatient verbraucht bis zu acht Gramm am Tag. Das kostet im Jahr schnell so viel wie ein neuer Mittelklassewagen. Allerdings wehren sich viele Krankenkassen noch dagegen, längerfristige Therapien bezahlen zu müssen.

Nach der neuen Regelung trägt nun der Arzt die Therapieverantwortung. Dies bedeutet aber laut Bundesregierung nicht, dass die Kasse einer Erstattung der Kosten zwingend zustimmen muss, wenn der Patient bereits eine Ausnahmeerlaubnis hat. Kein Wunder, dass große Verwirrung herrscht.

Der Berliner Apotheker Peter Waßmuth spürt diese Verwirrung täglich. „Es gibt einfach so viele Fragen zur Rechtssicherheit und Finanzierung, sodass viele Ärzte den Aufwand lieber vermeiden“, sagt er. Nur bei einer Patientin habe die Krankenkasse die Kosten problemlos übernommen.

Rund 100 chronisch Kranke zählt Waßmuth, der in Berlin-Mitte, in der Apotheke am Roten Rathaus, als Teamleiter arbeitet, zu seinen Kunden. Schon als Patienten nur mit einer Ausnahmegenehmigung Cannabis über die Apotheke beziehen konnten, arbeitete sich der 41-Jährige in das Thema ein. „Woanders bekamen die zu hören, sie sollten doch zu den Dealern im Park gehen.“ Das Angebot sprach sich herum, es kamen Menschen, die an MS, Epilepsie, Krebs oder HIV litten, aus mehr als 100 Kilometer Entfernung zu ihm.

Waßmuth wird kein Einzelkämpfer bleiben. Zwei Tonnen Cannabis sollen bis 2019 staatlich beaufsichtigt und staatlich lizensiert in Deutschland hergestellt werden. Dabei geht die Cannabis­agentur von so vielen Patienten aus, wie es jetzt schon Sondergenehmigungen gibt. Das sind ungefähr 1000. Vermutlich ist das Marktpotenzial wesentlich größer. Schätzungen reichen von 20 000 bis 800 000 Patienten. In Kanada gibt es knapp 170 000 registrierte Patienten, die aus medizinischen Gründen Canna­bis beziehen. Rechnet man diese Zahl auf die deutsche Bevölkerung hoch, ergibt sich ein Markt von 370 000 Patienten. Mit zwei Tonnen kommt man da nicht weit.

Kein Wunder also, dass die kanadischen Big Player nach Deutschland drängen. Und auch, um diesen über die jüngst erworbene Tochterfirma Pedanios zu bedienen, baut Aurora derzeit in der Heimat eine Fabrik, die 100 Tonnen herstellen soll.

Konkurrent Tilray geht einen anderen Weg. Er hat in Deutschland eine Art Cannabisbotschafterin installiert. Die heißt Marla Luther und sitzt im violett schimmernden Oberteil und schwarzer Hose auf dem Sofa eines Co-Working-Space am Potsdamer Platz. Im selben Gebäude, in dem Facebook seine Deutschlandzentrale hat. Die 47-jährige gebürtige Kanadierin kam gleich nach der Wende nach Deutschland. Zuletzt arbeitete sie in leitender Funktion in der Politikberatung von Ex-Außenminister Joschka Fischer.

„Deutschland ist ein logischer Startpunkt für Tilray in Europa, weil hier am meisten in Bewegung ist. Es gibt hier schon einen Binnenmarkt, deswegen ist Deutschland ganz klar im Fokus“, sagt Luther mit leicht nordamerikanischem Akzent. Das Geschäftsmodell ruhe dabei auf zwei Säulen. Erstens wolle man sein Produkt importieren und vertreiben. Vor allem aber sei Deutschland ein Investitionsmarkt, etwa für die klinische Forschung. „Wir müssen nicht unbedingt sofort profitabel sein.“ Tilray will aber bereit sein, wenn die Entwicklung den Sprung macht, den Luther erwartet. „Wir glauben, dass wir in fünf bis zehn Jahren nicht mehr mit der getrockneten Blüte umgehen. Der Markt wird pharmazeutisch.“ Heißt: Laut Luther wird es eine Cannabiskapsel oder -pille geben.

Experten bezweifeln das. Das hieße, man müsse Zulassungsstudien durchführen, sagt Berater Klaus Häußermann, und dafür müsse man grundsätzlich überlegen, in welchen Indikationen man das tun möchte: Schmerzen, ADHS, Parkinson, Tourette.

Aber wofür positionieren sich die kanadischen Firmen noch? Spekulieren sie doch auf eine baldige Freigabe von Cannabis für alle? Das weisen die Beteiligten weit von sich. „Wir machen Medizinalcannabis, der Rest interessiert uns nicht“, sagt Patrick Hoffmann von Pedanios. Luther antwortet ähnlich: „Der Freizeitmarkt spielt für Tilray überhaupt keine Rolle.“ Auch Klaus Häußermann glaubt nicht an eine schnelle Zulassung: „In den nächsten 15 Jahren werden wir das nicht erleben.“

Allerdings: Wer hätte vor vielleicht zehn Jahren gedacht, dass es in konservativen US-amerikanischen Staaten wie Colorado oder Nevada erlaubt sein würde, auf der Straße zu kiffen? Oder dass es in Deutschland eine staatliche Cannabisagentur geben würde?

Die Dinge können sich schnell verändern, zumal es in Deutschland eine starke politische Bewegung für die komplette Legalisierung von Cannabis gibt. Die Firmen, die sich jetzt den kleinen deutschen Cannabismarkt aufteilen, können die Entwicklung gelassen abwarten.

In der Marketingstrategie gibt es den Begriff „first-mover advantage“. Er besagt, dass Akteure in einer Branche einen strategischen Vorteil deshalb erlangen, weil sie zuerst auf den Markt gekommen sind. So werden Firmen wie Tilray und Aurora ihren Vorsprung in Deutschland halten können, egal ob der Markt sich weiter öffnet oder wie jetzt der halbe staatliche Deckel draufbleibt.

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Cicero Magazin
August 2017

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