Jagd auf die Nerds


Programmierer sind auf dem Arbeitsmarkt heiß begehrt. Im Krieg um Talente lassen sich Unternehmen so einiges einfallen

Auf die Idee muss man erst einmal kommen. Für Michael Salomon und Rishon Blumberg lag sie dennoch ziemlich nahe. 19 Jahre lang hatten die beiden Agenten Musiker wie Bruce Springsteen oder Vanessa Carlton vertreten. Als das Geschäft kriselte, die Gewinne einbrachen, da erkannten die beiden: Die Matadore des 21. Jahrhunderts machen keine Musik, sondern codieren Algorithmen oder implementieren Prozesse, sie tragen keine Lederjacken, sondern Kapuzenpullis. Sie gelten als schrullig und reden nicht viel, trotzdem lässt sich mit ihnen viel Geld verdienen. Also gründeten sie eine Talentagentur für Entwickler und Programmierer, sie hofieren Computer-Nerds wie einst Rockstars.

Im Silicon Valley tobt der War of Talent, der Krieg um die Talente, schon lange. Wer eine Programmiersprache wie Python fließend spricht, um den reißen sich Unternehmen. Studenten werden angeheuert, kaum haben sie ihr Studium begonnen. Der Agent wird zum Statussymbol. Für die Koryphäen werden dreistellige Stundenlöhne gezahlt. „Unsere Unternehmen suchen verzweifelt nach guten Mitarbeitern“, sagte etwa Marc Andreessen, einer der weltweit wichtigsten Risikokapitalgeber, in einem Interview. „Sie liegen wie Fische auf dem Trockenen und schnappen nach Luft, weil sie es nicht schaffen, genügend gute Leute zu finden.“ Der Krieg um die Talente nimmt in Kalifornien mittlerweile kuriose Züge an. Eine Firma etwa zahlt dort Mitarbeitern, die sie der Konkurrenz abgejagt haben, bei Jobantritt nicht nur eine Geldprämie, sondern schenkt ihnen auch eine Harpune. Eine andere verpackt ihre 1100-Dollar-Prämie als Köder in Speck. Auch ein bezahltes Sabbatical noch vor dem Antritt wird geboten. Chinas Internetgigant Baidu organisiert romantische Abende für seine Angestellten, denn verheiratete Mitarbeiter verlassen die Firma nicht so schnell.

Von kalifornischen Verhältnissen ist Deutschland zwar noch weit entfernt, aber auch hier hat die Nerd-Jagd begonnen. Die Welt wird gerade neu formatiert. Da wird der Programmierermangel zum Geschäftsrisiko. Fast jedes Unternehmen ist mittlerweile ein digitales Unternehmen: Vom Schraubenhersteller, in dessen App man nach dem passenden Dübel suchen kann, bis zum Auto, in dem mittlerweile 250-mal so viel an Information steckt wie in den gesammelten Werken von Shakespeare. Damit das alles funktioniert, beschäftigt selbst eine Firma, in der bis vor kurzem die EDV-Abteilung aus einer Teilzeitkraft bestand, mittlerweile ganze Entwicklerteams. Nur wie können deutsche Unternehmen in diesem weltweiten Krieg um Talente bestehen, wie können sie sich gegen Giganten wie Facebook, Apple oder Google behaupten? Man kann die Frage auch anders stellen: Wie muss eine Firma sich präsentieren, dass die neuen Rockstars für sie arbeiten wollen?

Mit dieser Frage beschäftigt sich Ivo Betke jeden Tag. Der 32-Jährige ist das deutsche Pendant zu Michael Salomon und Rishon Blumberg. Früher war er selber Programmierer, und während seiner Arbeit wurde ihm eines klar: Nicht nur die Personalabteilungen der Unternehmen sind permanent mit der Suche nach Programmierern beschäftigt, sondern auch die technischen Leiter, „sie verbringen 50 Prozent ihrer Zeit mit der Rekrutierung“. Also wurde Betke Headhunter, und schon bald wurde seine Berliner Firma von der französischen Plattform Talent IO gekauft. „Die Nachfrage ist so riesig, dass wir das Bewerbungsprinzip einfach umgedreht haben“, erklärt Betke. Das heißt, nicht die Unternehmen suchen Mitarbeiter, sondern die Programmierer suchen sich ihre Unternehmen. „Sie stellen ihr Profil auf unsere Internetseite und warten dann auf die Firmen. Meistens haben sie schon am ersten Tag fünf Anfragen.“

Harpunen und Speck würden nicht wirklich helfen, um in diesem Kampf zu bestehen, sagt Betke. Und auch andere sonst übliche Köder spielten bei den Begehrten nur eine untergeordnete Rolle. „Ob sie nun 55 000 oder 60 000 Euro im Jahr verdienen, ist den meisten nicht so wichtig.“ Entscheidender sei, dass in dem Team andere gute Leute arbeiteten. Dass es für das Produkt eine spannende Vision gebe, eine Herausforderung – und die richtige Infrastruktur, um diese zu lösen. „Die Firmen müssen sich sehr präzise überlegen, was die Digitalisierung spezifisch für sie bedeutet. Einfach ein paar Entwickler einzustellen, in der Hoffnung, dass einem von denen schon was Spannendes einfällt, das bringt nichts“, so Betke. Vor allem in der Verlagsbranche hätten Programmierer schlechte Erfahrungen gemacht. Viele hätten frustriert das Handtuch geworfen, weil sie immer wieder Projekte für die Schublade entworfen hätten. „Immer kurz vor dem Launch hieß es aus der Geschäftsführung, ‚nee, das machen wir doch nicht‘.“

Ein Unternehmen, das öfter auf Betkes Plattform nach Programmierern sucht, ist EyeEm. Die Foto-Community gilt als Berliner Vorzeige-Start-up. EyeEm ist eine Art Youtube für professionelle Fotos. Die Mitglieder teilen ihre Fotos auf der Plattform und tauschen sich aus. Inzwischen werden von EyeEm 80 Millionen Fotos angeboten. Das Revolutionäre ist die Form, wie man in der Datenbank suchen kann. Ein lernender Algorithmus analysiert die Fotos nach dem, was sie zeigen, nach Objekten, Farben und sogar Emotionen. Ein zweiter Algorithmus sortiert die Bilder nach ästhetischen Kriterien, je nach Geschmack und Identität des Kunden.

Jenny Jung ist bei EyeEm für die Rekrutierung von Personal zuständig. Sie fahndet auf der ganzen Welt nach Spezialisten, die mit den komplizierten Algorithmen arbeiten können. „Von denen gibt es weltweit nur 2200.“ Das Unternehmen, das derzeit 80 Mitarbeiter hat, wächst rasant. Gerade bezieht es eine zweite Etage in einem alten Berlin-Kreuzberger Fabrikgebäude. Doch klischeehafte Start-up-Gimmicks wie eine Rutsche oder einen Kickertisch sucht man vergeblich. Es herrscht vor den Computern eine eher nüchterne Arbeitsatmosphäre – die Mitarbeiter sitzen auf Bierbänken an langen Tischen.

Die 32-Jährige spricht offen über den Krieg in der Branche. „Natürlich schreiben wir Leute von anderen Unternehmen an, und die machen das auch bei uns.“ Der größte Gegner ist gleich der mächtigste von allen: Google. Doch in Sachen Gehalt oder anderen Annehmlichkeiten könne EyeEm sowieso nicht mithalten. Entscheidend sei, dass die Entwickler an Spitzentechnologie mitarbeiteten. „Die Spezialisten, die wir brauchen, haben im Grunde nur drei Möglichkeiten“, so Jung. „Entweder sie bleiben an der Uni und müssen sich ständig um Fördergelder kümmern, und am Ende schreiben sie eine Forschungsarbeit, die nur ihre Kollegen interessiert. Sie gehen zu einer großen Firma wie Google, dort arbeiten sie an irgendeinem abgefahrenen Kram, der vielleicht in zehn Jahren auf den Markt kommt. Oder sie arbeiten bei uns an einem konkreten Problem, und der Algorithmus, den sie entwickelt haben, geht zwei Monate später in die Anwendung.“
Aber nicht jede Firma, die mit Google oder Apple konkurriert, sitzt im hippen Berlin und spielt wie EyeEm zumindest bei der Technologie in derselben Liga. Viele Unternehmen liegen in der Provinz und sind einfach auf Programmierer angewiesen, die schlicht und ergreifend ihr Handwerk verstehen.

Was also macht beispielsweise ein Unternehmen aus dem Hochschwarzwald, genauer gesagt aus Lenzkirch, und das keiner kennt, obwohl es Weltmarktführer in seiner Branche ist und 2500 Mitarbeiter beschäftigt? Was macht also das Messtechnik-Unternehmen Testo? Seit etwa zwei Jahren treibt Vorstandschef Burkart Knospe bei Testo die Digitalisierung voran. Für ihn ist klar, dass das Internet der Dinge und die Cloud-Technologie entscheidend sind, wenn es zukünftig darum geht, Messdaten nicht nur zu erheben, sondern auch umfassend zu analysieren und zu dokumentieren. Und der 55-Jährige macht sich keine Illusionen darüber, dass die dafür benötigten Programmierer in den Süden von Baden-Württemberg kommen würden. „Also mussten wir zu ihnen gehen“, sagt Knospe. Vor einem halben Jahr hat Testo in Berlin eine Niederlassung eröffnet, in der schon bald 50 Mitarbeiter, vor allem Programmierer arbeiten sollen.

Die Mitarbeitersuche laufe gut, sagt Knospe. Testo habe verstanden, dass Programmierer anders angesprochen werden müssen. Statt per Zeitungs- oder Online-Annonce ginge das besser auf Konferenzen oder bei Truffls, einer Art Dating-App für Jobs. Und statt über Dienstwagen sollte man lieber über Inhalte sprechen, darüber, mit welchen Tools und auf welchen Servern gearbeitet wird. Vor allem aber gilt es, auf dem Schlachtfeld nicht die Stärken zu vergessen, die ein gestandenes Unternehmen gegenüber Start-ups nach wie vor hat: Tradition, Größe, Stabilität. „Wer schon bei drei gehypten Projekten gearbeitet hat, die alle in die Hose gingen, der will nicht unbedingt noch einmal ein kleines Rad bei der Arbeit an irgendeinem großen Traum sein. Der weiß es durchaus zu schätzen, jeden Monat ein festes Gehalt überwiesen zu bekommen“, so Knospe. Deshalb habe Testo in Berlin auch eine Niederlassung gegründet und keine mit Risikokapital ausgestattete Tochter. Ähnlich selbstbewusst betont der Unternehmenschef das Thema Sinnhaftigkeit der Arbeit. Auch da könne man punkten. „Viele Start-ups sind ja eigentlich nicht viel mehr als eine Preissuchmaschine. Bei uns arbeiten die Leute an Systemen, die die Qualität von Arznei- und Lebensmitteln überwachen. Damit sorgen sie dafür, dass weniger Menschen erkranken oder gar sterben.“

Wer in dem Krieg um die Talente bestehen will, muss also verstehen, worauf es den Programmierern ankommt. Firmen wie EyeEm oder Testo scheint dies auf unterschiedliche Weise zu gelingen. Was das ist, zeigt auch eine Umfrage von Stack Overflow, einem einflussreichen Onlineforum für Programmierer. Mehr als 26 000 Entwickler aus 157 Ländern nahmen 2015 an dessen Developer Survey teil. Die Ergebnisse sind zwar nicht repräsentativ, aber trotzdem die größte Erhebung dieser Art. Kaum jemand wird Programmierer, so ist da zu lesen, nur um damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die meisten programmieren aus Leidenschaft oder Berufung, häufig ist es auch eine Sucht.


Die introvertierten Stars des 21. Jahrhunderts müssen jedoch aufpassen, dass sie sich nicht selbst wieder vom Sockel stoßen. Längst werden von Programmierern Tools entwickelt, die es Computern ermöglichen sollen, komplexe Aufgaben ohne menschliche Unterstützung zu lösen. „In gewisser Weise arbeiten Programmierer an ihrem eigenen Untergang mit“, sagt Viktor Mayer-Schönberger. Der Österreicher schrieb früher selbst leidenschaftlich Codes, inzwischen forscht er als Big-Data-Experte am Oxford Internet Institute. Selbst die Entwickler im heute am meisten umkämpften Bereich der Branche, der statistischen künstlichen Intelligenz, würden mit Hochdruck an deren Verbesserung arbeiten. Und das bedeutet: „Was derzeit nur hochspezialisierte Menschen können, werden irgendwann Maschinen erledigen.“

>Seitenanfang
Cicero Magazin
Januar 2017

Download PDFDruckansicht

www.constantinwissmann.de | Home | Texte | Vita | Kontakt / Impressum