Durchsichtige Strategie
Firmen wollen immer mehr über ihre Mitarbeiter wissen: Sie durchsuchen Onlineprofile und analysieren den Freundeskreis. Wie verändert das unser Arbeitsleben?
Eigentlich hätte Ralf Wlodasch misstrauisch werden müssen. Aber es war eben sein erster Job, er hatte gerade seinen Doktor in Chemie gemacht und sich gefreut, eine positive Antwort auf die Bewerbung erhalten zu haben. Außerdem: Er brauchte diesen Job. Das Konto war leer. Die Freundin schwanger. Ralf Wlodasch stand unter Druck. Da stellt man keine kritischen Nachfragen, sagt er heute.
Der französische Pharmakonzern Servier, bei dem sich Wlodasch beworben hatte, lud ihn zunächst zu zwei Vorstellungsgesprächen ein und bat dann um je drei professionelle und private Referenzen. Wlodasch bezweifelte zwar, dass seine Kumpels seine Fähigkeiten im Labor beurteilen könnten. Aber drei seiner besten Freunde stimmten einem Treffen mit Servier zu. Sie wollten ihm helfen. »Ich habe gesagt, sie sollen einfach ehrlich antworten«, erinnert sich Wlodasch. Er fand das Prozedere umständlich. Aber weil er wenig Berufserfahrung hatte, dachte er: »Das ist bei Bewerbungen wohl normal.«
Servier ist außerdem eine gute Adresse, hat weltweit 20.000 Mitarbeiter, 450 davon in Deutschland.
Wlodaschs Freunde trafen den Servier-Interviewer in einem Businesshotel. Es war ein kurzes Treffen, erzählten die Freunde später, fünfzehn Minuten, Standardfragen, Stärken, Schwächen, nichts Besonderes. Ralf Wlodasch hakte nicht nach. Er ist Naturwissenschaftler und es deshalb gewohnt, sich nicht von Emotionen leiten zu lassen. Er interessiert sich für Ergebnisse. Und die waren gut. Er bekam den Job.
Früher dachte man darüber nach, ob es sich lohnt, seine Hobbys und Nebenkompetenzen in den Lebenslauf zu schreiben (»Gelte ich als Modelleisenbahner als detailversessen oder schrullig? Interessiert das überhaupt jemanden?«). Heute scheinen sich viele Personaler mehr für das Privatleben der Bewerber zu interessieren als für deren eigentliche Qualifikation – und entwickeln immer raffiniertere Methoden, um potenzielle Mitarbeiter zu analysieren. Zwar ist der Pharmakonzern Servier bislang eine von wenigen Firmen, die das soziale Umfeld der Bewerber bereits auf solche Weise invasiv durchleuchten. Aber die Erfahrung von Ralf Wlodasch steht symptomatisch für eine Arbeitswelt, in der Firmen nicht nur erwarten, dass man sich zu hundert Prozent mit ihnen identifiziert, sondern dass man ihnen jedes Geheimnis erzählt.
Eine Studie des IT-Branchenverbandes Bitkom ergab bereits 2013, dass rund vierzig Prozent aller Personaler im Netz nach privaten Informationen über Jobbewerber suchen. Immerhin zwanzig Prozent recherchieren in sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder LinkedIn. In den USA sind Drogentests fester Bestandteil des Bewerbungsverfahrens und des Arbeitsalltags. Zwar unterschreiben Arbeitnehmer sowohl bei den Drogen- als auch bei den Umfeldscreenings von Servier in der Regel eine Erklärung, dass sie mit dem Vorgehen einverstanden sind. Aber wie frei ist diese Wahl in einem umkämpften Arbeitsmarkt wirklich?
Hört man sich im Umfeld von Servier um, lernt man viele aktuelle und ehemalige Mitarbeiter kennen, die alle eine ähnliche Geschichte erzählen: »Ich war überrascht, aber letztlich habe ich mir dann doch nicht viel dabei gedacht. Ich wollte ja den Job.« Je größer der Druck ist, einen Job zu finden, desto mehr lassen Arbeitnehmer eben auch mit sich machen.
Bei Servier versteht man natürlich nicht, dass manche Arbeitsrechtler das Umfeldscreening bedenklich finden. Stattdessen schreibt Horst Stemmer, der Personalchef von Servier Deutschland, in einer E-Mail von einem »zugegeben aufwendigen« Rekrutierungsverfahren. Man sehe die Methode nicht als Überwachungsmaßnahme, sondern als Investition in die »langfristige Zusammenarbeit« zwischen Konzern und Angestellten. Telefonisch möchte sich Stemmer zu der Praxis nicht äußern, was schade ist, denn es gibt so viele Fragen.
Zum Beispiel: Kann man von der Tatsache, dass ein Arbeitnehmer in seiner Freizeit, sagen wir, gerne Gokart fährt oder dazu neigt, Anrufe von guten Freunden auf die Mailbox umzuleiten, wirklich Rückschlüsse auf seine Arbeitsmoral ziehen?
Auch Joachim Diercks interessiert sich für Informationen über Bewerber, die diese nicht in den Lebenslauf schreiben. Der Hamburger ist ein sogenannter Recruitment-Berater und konzipiert für deutsche Firmen Onlinebewerbungsverfahren. Mit Fragebögen und Rollenspielen will er beispielsweise Erkenntnisse über die soziale Kompetenz von Bewerbern gewinnen – Teamplayer oder Eigenbrötler? Diercks kann deshalb zwar nachvollziehen, dass Personaler alle verfügbaren Informationen über potenzielle Mitarbeiter sammeln. Allerdings bezweifelt er, dass Familienmitglieder und Freunde dabei wirklich eine hilfreiche Informationsquelle darstellen. Alte Kollegen und Chefs wüssten doch viel besser Bescheid, sagt Diercks: »Letztlich kommt es aber darauf an, dass jemand in seinem Job gut ist, und nicht darauf, was er privat treibt.«
Ein Satz, der eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, es aber schon seit langer Zeit nicht mehr ist. Und das hat Gründe. Das gesteigerte Informationsbedürfnis der Firmen ist nicht allein neuen technischen Mitteln oder einem plötzlichen Kontrollwahn geschuldet, sondern hängt auch mit der sich verändernden Arbeitswelt zusammen. Eine Studie der Universität Bamberg hat ergeben, dass Unternehmen die Persönlichkeit eines Bewerbers und seine Soft Skills inzwischen höher bewerten als Berufserfahrung und gute Noten.
In der Wissensgesellschaft zeichnet sich ein guter Arbeitnehmer eben nicht länger durch muskulöse Oberarme oder tiefes Fachwissen aus, sondern muss in einem Team funktionieren und komplexe Informationen weiterkommunizieren. Deshalb wird der sogenannte »Cultural Fit« immer wichtiger bei der Mitarbeiterauswahl: Mit diesem Begriff beschreiben Personaler den Grad der Kompatibilität eines Bewerbers zur Unternehmenskultur. Vereinfacht gesagt: Ein Spießer passt nicht in ein kreativ-chaotisches Start-up-Umfeld, ein Slacker wird es in einer Anwaltskanzlei, in der Anzugpflicht herrscht, schwer haben.
Der Begriff »Cultural Fit« kommt natürlich aus den USA. Und weil viele Werkzeuge und Trends aus Amerika mit einiger Verzögerung auch in Europa wichtig werden, lohnt sich der Blick auf den Arbeitsmarkt jenseits des Atlantiks. In den USA ist es zum Beispiel mittlerweile normal, dass Bewerber einem Screening unterzogen werden. »Screening« bedeutet: totale Durchleuchtung. Längst gibt es Dienstleister, die anbieten, den Leumund von Bewerbern zu überprüfen. Sie checken, ob der Bewerber in Vorstrafenregistern und der Sexualverbrecherkartei auftaucht, und überprüfen Hochschulabschlüsse und die Finanzlage. Das kalifornische Start-up Reppify zum Beispiel analysiert im Auftrag von Unternehmen die Social-Media-Profile von Bewerbern – und das geht längst über die Suche nach Partyfotos mit Bierflasche in der Hand hinaus. Reppify hat ein Computerprogramm entwickelt, das alle Postings und Fotos durchforstet und Punkte in Kategorien wie »Reputation«, »Einfluss« und »Gesamteindruck« verteilt. Es wird also untersucht, wie der Bewerber als Privatperson online auftritt, ob er freundlich und kommunikativ wirkt, ob er ein Troll ist. Reppify merkt natürlich auch, wenn Informationen nicht zusammenpassen – die Person also zum Schwindeln und Täuschen neigt. Online gehört das Spiel mit Identitäten dazu, im Büro eher nicht.
Kein Wunder, dass eine Microsoft-Studie feststellte, dass siebzig Prozent der US-Personaler schon einmal Bewerber aufgrund einer Onlinerecherche abgelehnt haben. Ein gehässiger Kommentar, ein auffälliges Foto, ein fragwürdiger Zweitaccount – schon ist man raus.
Das ist der Zeitpunkt, an dem man sich wundert, warum die Gewerkschaften nicht längst Großdemonstrationen gegen den Kontrollwahn der Firmen organisieren. Die bestehenden Gesetze in Deutschland sind bestenfalls schwammig – und schützen Arbeitnehmer nur unzureichend. »Der Boom der sozialen Netzwerke war schneller als der Gesetzgeber.«, sagt Christoph Schäfer, der als Datenschutzberater für deutsche Firmen arbeitet. Dabei wurde das Bundesdatenschutzgesetz erst 2009 erneuert. Darin steht: »Personenbezogene Daten eines Beschäftigten dürfen für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist.« Was das genau heißt? Auslegungssache, sagt Christoph Schäfer. Umfangreiche Screenings und Background-Checks sind in Deutschland nur für Stellen mit Sicherheitsrisiko erlaubt, also etwa bei der Bundeswehr oder dem Flughafensicherheitsdienst. »Nach strenger Auslegung dürfen Personaler die Bewerber nicht einmal im Netz suchen, denn sie haben ja bereits die Bewerbungsunterlagen, aber das machen viele natürlich dennoch.« Es gibt noch keine etablierte Rechtsprechung dazu, ob ein Unternehmen einen Kandidaten etwa wegen eines Facebook-Videos ablehnen darf, in dem er betrunken Helene Fischers »Atemlos« grölt. Die Arbeitsgerichte entscheiden von Fall zu Fall. Es ist aber auch sehr schwer nachzuweisen, ob ein Unternehmen das Privatleben eines Bewerbers mithilfe von Google durchstöbert hat. Was bleibt, ist ein ungutes Gefühl: »They are watching us.«
Dass diese Überwachungsmaßnahmen keine reinen Formalitäten sind, sondern die Unternehmenskultur prägen, musste auch der Chemiker Ralf Wlodasch feststellen, der im Außendienst von Servier arbeitete. Die Kontrolle der Mitarbeiter endete nicht mit der Unterschrift unter dem Arbeitsvertrag. Wlodasch, erzählt er, musste seine Arbeit minutiös dokumentieren. Nach einem Jahr kündigte er. »Ich habe gemerkt, dass es eben nicht egal ist, ob eine Firma alles wissen will oder nicht«, sagt der heute 35-Jährige. »Diese Mischung aus Kontrolle und Druck macht einen fertig.«
Die Szenen aus dem Arbeitsalltag bei Servier erinnern einen fast an den dystopischen Roman »Der Circle« von Dave Eggers, eines der wichtigsten Bücher des Jahres. Der Circle ist eine Firma, die wie ein Mash-up aus Google, Apple und Facebook funktioniert und das Leben der Menschheit komplett dominiert. Das Unternehmensziel: totale Transparenz. »Alles Private«, so das Motto des Konzerns, »ist Diebstahl.«
»Der Circle« ist ein Science-Fiction-Roman – aber so weit entfernt, wie man denken sollte, ist die Situation heutiger Arbeitnehmer gar nicht mehr von dem futuristischen Setting. »Es ist wichtig, dass das Unternehmen wie eine Familie für sie ist«, sagte der damalige Google-Vorstandschef Larry Page vor zwei Jahren über seine Angestellten. »Familie« klingt erst einmal gut, klingt nach guter Stimmung, Verlässlichkeit, ja Liebe. Andererseits gibt es in jeder Familie auch Missverständnisse, Konflikte und komplizierte Gefühle.
Wenn die Trennung zwischen Arbeit und Privatleben im Sinne von Servier und Co. aufgehoben wird, dann hat jede Handlung im Freundeskreis und jede Kontaktperson potenziell Einfluss auf die Karriere. Und eine Absage auf eine Bewerbung ist nicht nur ein beruflicher Rückschlag, sondern auch eine persönliche Kränkung: Du bist nicht gut genug – auch als Mensch. Die Durchleuchtung des Umfelds durch Arbeitgeber verändert die sozialen Beziehungen. Ralf Wlodasch ist natürlich immer noch mit den drei Kumpels befreundet, die damals interviewt wurden. Er bekam ja den Job. Eine andere Geschichte erzählt die Chemikerin Jana Matthies. Die 28-jährige Chemikerin fing vergangenes Jahr bei Servier an und gab ihre gute Freundin Verena Töpper als Referenz an. Die Chemikerin ist seit zehn Jahren mit der Journalistin gut befreundet. Die beiden nahmen die Sache locker. »Wir schrieben uns gegenseitig SMS, mit absurden Dialogen, wie man das noch vermasseln könnte«, erinnert sich Verena Töpper. Sie telefonierte dann lange mit einem Personaler und ging mit dem Gefühl aus dem Gespräch, dass sie ihrer Freundin hatte helfen können. Töpper erzählte, dass man sich immer auf Jana verlassen könne, dass sie zielstrebig und hilfsbereit sei. »Habe gerade ein 1A-Vorstellungsgespräch für dich geführt«, schrieb Verena Töpper nach dem Telefonat an Jana Matthies. Neun Tage später wurde Matthies in der Probezeit entlassen. »Ihre Referenzen sind nicht gut genug«, sagte ihr Chef. Mehr nicht. »Wir waren da beide unglaublich naiv«, sagt Verena Töpper heute, die über ihre Erfahrungen mit Servier auch einen Artikel geschrieben hat. Sie hat gelernt, dass es keinen Job gibt, für den man eine Freundschaft riskieren sollte. Das Verhältnis zwischen den beiden Frauen war lange Zeit belastet: »Jana hat mir nie direkt Vorwürfe gemacht«, so Töpper. »Aber ich habe mir natürlich den Kopf darüber zerbrochen, ob ich etwas falsch gemacht habe.« Eine Antwort auf die Frage hat sie nie bekommen.
Die Firmen wollen zwar jedes Detail über ihre Mitarbeiter wissen, machen aber selbst ein Geheimnis daraus, welche Informationen sie wie bewerten.
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