Ein Leben voller Brüche
Stefan Ustorf war einer der besten deutschen Eishockeyspieler. Er kann es heute noch spüren – jeden Tag, in jedem Knochen
Berlin, 6. Dezember 2011. Berliner Eisbären gegen die Hannover Scorpions, ein stinknormales Spiel der Deutschen Eishockey-Liga (DEL). Stefan Ustorf, Berliner Eisbären, hat am eigenen Tor den Puck weggeschlagen, den Angriff der Scorpions unterbunden. Trotzdem rauscht noch ein Angreifer auf ihn zu, um ihn zu checken. Gerrit Fauser trifft Ustorf mit der linken Schulter von unten gegen den Kopf. Ustorf wird herumgewirbelt, schlägt mit seinem Kopf seitlich auf das Eis in der Berliner O2-World.
Selbst im Eishockey ist das ein Foul. Checks sind zwar erlaubt, doch nicht wenn sie niemandem nützen und der Angriff gegen den Kopf erfolgt. Trotzdem kommen solche Checks in jedem Spiel mehrmals vor. Deswegen glaubt am Nikolaustag 2011 auch niemand, dass hier etwas besonders schlimmes passiert ist. Gerrit Fauser nicht, er hat schon längst wieder abgedreht, später wird er für ein Spiel gesperrt werden. Das Fernsehen nicht, keine Kamera hat den Check eingefangen. Das Publikum nicht, denn Stefan Ustorf gilt im wohl härtesten Mannschaftsport der Welt zumindest in Deutschland als einer der härtesten Spieler. „Ustorf, Hooligan“ so feuern ihn in diesem Moment Tausende Fans an. Hooligan, das ist sein Spitz- oder Kampfname.
Als Stefan Ustorf auf dem Eis liegt, denkt er auch nicht daran, dass sich in diesem Moment etwas verändert haben könnte – weil erst einmal nur benommen ist. Er spielt seit 21 Jahren Eishockey auf höchstem Niveau und wann gab es da schon mal ein Spiel oder einen Tag ohne Schmerzen? Eigentlich nie. Er kann ja einiges aushalten, seine Verletzungsliste reicht für eine ganze Mannschaft, fast jedes Körperteil war schon einmal kaputt. Auch diesmal wird es weh tun, sicher, vielleicht muss er für kurze Zeit aussetzen. Aber er wird sich durchbeißen, und irgendwann wird der Schmerz dann verschwinden, vielleicht nicht ganz, aber er wird wieder auf dem Eis stehen. Er kennt das nicht anders.
Fast zwei Jahre später steht in Berlin wieder ein Ligaspiel an, es geht es gegen die Panther aus Ingolstadt. Stefan Ustorf, 39, ist dabei – als Besucher beim Abschlusstraining seiner früheren Kollegen. Er ist aus den USA gekommen, aus einer Kleinstadt in Ohio, wo er mit seiner amerikanischen Frau und ihren zwei Kindern lebt. In der O2 World steht er an der Werbebande, die das Spielfeld begrenzt. Es ist auch seine Grenze, denn auf das Spielfeld wird er nie mehr können. Weil er krank ist. Beim Sturz auf das Eis hat er damals ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Bis dahin hatte er das deutsche Eishockey geprägt wie kaum ein anderer. Lange war er Kapitän der Nationalmannschaft, nahm vier Mal an Olympia teil, sechs Mal an der Weltmeisterschaft. In Berlin war er ein Idol, führte die Eisbären zu sechs deutschen Meisterschaften. Insgesamt bestritt er mehr als 1.000 Spiele, 121 in der Nationalmannschaft, 54 in der nordamerikanischen Profiliga NHL. Es wird keins mehr dazukommen.
Nach zwei Jahren Therapie ist er heute froh, wenn er nach 20 Minuten auf dem Fahrradtrainer nur drei Stunden lang Kopfschmerzen hat. Zudem plagen ihn Gleichgewichts- und Sehstörungen, das Sprechen musste er neu erlernen, Schlafen ist Glückssache. Eine völlige Heilung ist ausgeschlossen, man kann nur die Symptome behandeln und hoffen, dass es besser wird. Er hat in diesem Jahr noch eine Schulterprothese bekommen, zahlreiche Operationen gab es am Kiefer, an Handgelenken und Knien müsste man auch mal was machen – die Liste hört nicht auf. Ustorf rattert sie emotionslos herunter. Die Behandlungen nennt er „Reparaturen“, er spricht von seinem Körper wie von einem alten Auto, das nun ständig in die Werkstatt muss. Kaum mehr zu gebrauchen für die Grundfunktionen, schon nach der Hälfte der Halbwertzeit, nach 39 Jahren, fast ein Wrack. Zerstört vom Besitzer selbst, der seinen Körper immer wieder ans Limit getrieben hat und darüber hinaus, wie ein Rennfahrer seinen Boliden. Es ihm anzusehen. Stefan Ustorf, der einstige „Hooligan“, ist ein hagerer, fast zarter Mann geworden. 15 Kilo hat er seitdem verloren, Muskelmasse. Die Schuld daran hat nur einer. „Ich, ganz allein“, sagt er.
Fast jeden Tag seines bisherigen Lebens hat er seinen Körper in das Spiel hineingeworfen. In diese Knochenmühle, in der die Kufen der Schlittschuhe scharf, der Puck hart und die Spieler Kolosse sind, die in Höchstgeschwindigkeit aufeinander zurasen, um sich gegenseitig aus dem Weg zu räumen. Stefan Ustorf galt nicht als unfairer Spieler. „Mit Absicht habe ich nie jemanden verletzt“, sagt er. Aber wenn es sein musste, dann steckte auch er nicht zurück. „Jeder weiß ja, wenn er ins Spiel hinein geht, dass da irgendwas passieren kann. Auch umgekehrt ist da immer die Möglichkeit, jemanden anderen weh zu tun, vor allem beim Check. Wenn einem das nicht bewusst ist, das wäre so, als würde man sagen, ‚ich laufe jetzt einen Marathon und bin danach nicht müde’. Die Härte gehört dazu“.
Für viele macht die Härte das Wesen des Spiels aus. Man kennt die Bilder, wenn die Stars die Trophäen in die Luft stemmen, dabei den Mund zum Jubelschrei aufreißen und ihre Zahnlücken zeigen. Symbole dafür, wie die Überwindung des Schmerzes zum Triumpf führt. Deswegen lieben die Fans den Sport. Wie sehr, das beschreibt der kanadische Journalist und frühere Profi Justin Bourne in seinem Blog für die Webseite theScore.com: „Eishockey-Fans sind Vampiristen. Sicherlich gibt es viele Euphemismen dafür, aber letztendlich ist es so. Die Fans lieben Blut, denn Blut steht für Schmerz und wir mögen es, Schmerz zu sehen.“ Die Eishockey-Folklore besteht aus einer endlosen Anzahl von Heldengeschichten, wie Spieler mit gebrochenen Beinen oder ausgerenkten Schultern mehrere Minuten oder gar mehrere Spiele lang durchhielten.
In der amerikanischen NHL gibt es sogar in jeder Mannschaft einen Spieler, der fast ausschließlich dazu da ist, den Gegnern Schmerzen zuzufügen: den „Enforcer“. Er kommt meist nur für kurze Zeit auf das Eis und nicht zum Spielen. Er soll das gegnerische Team einschüchtern, mit harten Checks, versteckten Fouls und, wenn’s sein muss, einfach mit Faustschlägen. Für die Kämpfe Mann gegen Mann gibt es in der NHL klare Regeln, sie werden nicht viel härter bestraft als ein einfaches Foul. 2011, ein halbes Jahr vor Ustorfs Kopfverletzung, starb einer der bekanntesten Enforcer, Derek Boogaard , an einer Überdosis aus Schmerzmitteln und Alkohol. Er war 28 Jahre alt. Bei seiner Obduktion und der von zwei anderen ehemaligen Enforcern wurde das sonst nur von Boxern bekannte CTE-Syndrom gefunden: chronisch traumatische Enzephalopathie, eine dauerhafte Schädigung des Hirns, die zu Demenz führen kann. Danach brannte in den USA eine Debatte über die Gefährlichkeit von Hirnschäden bei Kontaktsportlern, vor allem auch im American Football, auf. Trotzdem verdienen noch viele Enforcer in der NHL gutes Geld für ihre Bereitschaft, Schmerzen auszuteilen und hinzunehmen.
In Europa und Deutschland werden Prügeleien härter geahndet, Enforcer gibt es deshalb nicht. Horrorgeschichten aber kann auch Stefan Ustorf erzählen im fensterlosen Büro des Pressesprechers in den Katakomben der Berliner Arena. Zum Beispiel, wie er sich im Playoff-Halbfinale 2008 mit den Eisbären gegen Düsseldorf beim Versuch, einen Schuss zu blocken, den Mittelfuß brach – und im anschließenden Finale gegen Köln erneut auflief. Im Februar 2009 gegen Iserlohn schmiss er sich, während sein Team in Unterzahl war, dem fliegenden Puck entgegen. Er verlor acht Zähne, der Kiefer war gebrochen. Vier Wochen später stand er wieder auf dem Eis, mit zwei Titanplatten im Kiefer. Dabei fühlte sich Stefan Ustorf nie als Held, es war einfach Teil seines Jobs. „Die Verletzungen passieren halt. Wenn Dich eine Scheibe im Gesicht trifft, was willst Du dagegen machen? Das hat auch damit zu tun, wie man Eishockey spielt. Ich habe auf dem Eis immer gedacht, ich wäre ein bisschen größer, als ich wirklich war.“ Ob er eine Verletzung vielleicht einmal auskurieren müsste, darüber dachte er nicht nach. So schnell wie möglich zurückkommen, nur darum ging’s. „Wenn ich dachte, ich könnte in irgendeiner Weise meiner Mannschaft helfen, dann habe ich gespielt. Teil einer Mannschaft zu sein, war für mich das Schönste beim Eishockey. Das besondere Gefühl der Gemeinschaft in der Kabine, gemeinsam ein Ziel verfolgen, mit 20 Mann in zwei Minuten die eine Lösung für ein Problem zu finden. Dazu habe ich beitragen können und wenn’s dann ein bisschen weh getan hat, war das egal.“
Als sich Stefan Ustorf vor etwa zehn Jahren das Handgelenk gebrochen und ein Band gerissen hatte, sagte ihm der untersuchende Arzt, nun sei es vorbei mit dem Eishockey. „Die Karriere beenden mit 29 Jahren, das ging ja gar nicht“, erinnert sich Ustorf. Er ging zum nächsten Arzt, der sagte ihm das Gleiche. So ging es weiter, bis ihm der fünfte endlich grünes Licht gab. Ustorf hatte sein Ziel erreicht. Er konnte weitermachen. Womöglich wurde ihm diese Beratungsresistenz später zum Verhängnis. Neun Tage vor dem Spiel gegen Hannover war er mit dem Kopf gegen die Plexiglasscheibe geknallt, die das Spielfeld zum Schutz der Zuschauer umgibt. Er hatte danach Kopfschmerzen, dachte sich aber nichts dabei. Dann kam der Sturz auf’s Eis. Die Mediziner nennen es „Second Impact Syndrome", wenn jemand eine weitere Gehirnerschütterung bekommt, wenn eine andere noch nicht ausgeheilt ist.
Bis dahin hatte das ständige Training alles zusammengehalten, die Muskeln waren stark. Sie sind es nicht mehr. Heute fehlt dem Körper der Halt. Viele Verletzungen, die Ustorf im Laufe seiner Karriere hatte, treten nun wieder hervor wie die an der Schulter und am Kiefer. Als ob sich sein Körper jetzt an ihm rächen will.
Athleten bezeichnen ihren Körper oft als Tempel. Hat Ustorf seinen eigenen Tempel geschändet? Im Gegenteil, sagt er. „Ich habe mich immer sehr gut um meinen Körper gekümmert. Wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte ich gar nicht so lange spielen können.“ Und darum ging es ja. So lange spielen wie es irgend geht. „Ich habe jeden Tag Eishockey geliebt. Die Geschwindigkeit des Spiels, in einer Mannschaft sein, Tore schießen, schnelle Passstafetten – das hat mich fasziniert. Wenn man einen Erfolg feiert, sich Kindheitsträume wie Olympia oder die NHL erfüllt, füllt einen die Euphorie von oben bis unten aus.“ Wie eine Sucht sei das gewesen .“
Hat er die vielen Jahre auf dem Eis nie bereut? Nicht mal jetzt, wo er sich kaum noch bewegen kann? Stefan Ustorf schaut einen verständnislos an. Als ob das so Fragen sind, die nur Leute stellen können, die keine Ahnung vom Leistungssport haben. Leute, die in ihrem Alltag normalerweise keine Schmerzen überwinden müssen, außer hin und wieder ein bisschen Kopfweh. Natürlich, sagt Ustorf, sei das am Anfang frustrierend gewesen. Auf einmal nicht mehr spielen zu können, nicht mehr in der Kabine mit den Jungs zu sitzen, und dann die ständigen, nicht kontrollierbaren Schmerzen. Aber jetzt hätte er sich eben damit abgefunden. Zu bereuen gäbe es da nichts. „Ich würde jedes Spiel sofort wieder spielen und mit der gleichen Einstellung hineingehen. Ich durfte 21 Jahre lang Eishockey spielen und wurde dafür bezahlt. Wäre das nicht so gewesen, hätte ich auch jeden Tag gespielt, nach der Arbeit mit meinen Kumpels. Aber ich durfte mein Hobby zu meinem Beruf machen, das ist ein Traumjob gewesen. Es würde mir nie einfallen, mich darüber zu beschweren.“
Stefan Ustorf wuchs in einer Eishockey-verrückten Familie auf. Sein Vater und zwei Onkel waren berühmte Spieler, im Eishockey-verrückten Kaufbeuren, einer 40.000-Einwohner-Stadt mit einem Bundesligaverein. Als er das erste Mal auf’s Eis lief, war sein Leben vorbestimmt. Wenn er vom Training nach Hause kam, spielte er weiter, im Sommer mit Rollschuhen auf der Straße, im Winter mit Schlittschuhen auf dem See. Das Spiel ließ ihn Karriere machen, es führte ihn nach seinem Wechsel in die NHL auch zu seiner Frau, einer Amerikanerin.
Das Eishockey hat Stefan Ustorfs Körper zerstört, aber es hat ihn auch sonst zu dem Menschen gemacht, der er ist. Vielleicht gerade weil er Dinge erfahren hat, die zum Menschsein gehören, uns aber im Alltag weitgehend fremd geworden sind. Schmerz auszuhalten und überwinden. Vielleicht schauen wir Leuten wie Stefan Ustorf deshalb gern zu, weil sie uns zumindest daran erinnern, dass viele der besten menschlichen Eigenschaften nur aus den schwierigsten Erfahrungen entstehen. Ohne Schmerzen, keine Stärke. Stefan Ustorf jedenfalls, mit nicht einmal 40 Jahren ein körperliches Wrack, sagt: „Ich bin ein glücklicher Mensch“. Auch sein Sohn Jake , 16 Jahre alt, steht täglich auf dem Eis. „Wenn der sich entscheidet, sich in einen Schuss zu werfen, werde ich ihm das nicht verbieten“, sagt er.
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