Herzschmerz für die Forschung


Immer noch studieren zu wenige Mädchen Fächer wie Mathe oder Physik. Das soll jetzt eine Soap-Opera ändern, die neue Rollenbilder vermittelt.

Im Apollo-Saal des Rostocker Hotels Sonne spielt sich ein Tochter-Vater-Konflikt ab. Nele läuft voller Freude auf ihren Papa Wolfgang zu, doch der blickt sie sorgenvoll an und hält ihr ein Schreiben entgegen. "Du sollst dich beim Personalchef melden", sagt er. "Das habe ich schon getan, ich habe gekündigt", antwortet sie lachend. "Und warum freust du dich dann so?", entgegnet er. Nele will gerade zur Erklärung ansetzen, doch da fängt im Hintergrund eine Kaffeemaschine an zu zischen. "Cut!", ruft Regisseur André Jagusch. Die Schauspielerin Anke Retzlaff und ihr Filmvater Dirk Dreißen müssen noch mal von vorn anfangen. Im Hotel wird gedreht, aber die Kaffeemaschine gehört nicht zum Set. Sie soll die zahlreichen jungen Frauen und Männer versorgen, die hier herumwuseln und an der Produktion mitarbeiten. Dass da einer mal vergisst, die Kaffeemaschine während des Drehs auszuschalten, passiert wohl auch in Hollywood. Ansonsten wirkt hier alles so, wie man es sich bei einer professionellen Produktion vorstellt: schweres Kameragerät, Wischmopp-Mikrofone und die obligatorische Filmklappe, mit der die Regieassistentin den Startschuss zu einer Szene gibt.

So entsteht in Rostock derzeit Deutschlands erste "Science-Soap", entwickelt und gedreht von Studenten. Eine Fernsehserie, die es mit Seifenopern wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten oder sogar mit amerikanischen Kult-Teenager-Serien wie Dawson’s Creek aufnehmen soll. Nicht zufällig ist der Name Sturm des Wissens an eine bekannte Nachmittagsserie angelehnt. Der große Unterschied: Diese Produktion hat einen explizit pädagogischen Auftrag – sie soll mehr junge Mädchen für naturwissenschaftliche und technische Fächer begeistern.

Noch immer entscheiden sich nur wenige Frauen für einen sogenannten Mint-Studiengang, also für Fächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik. Im Jahr 2011 waren es 37 Prozent in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern, 21 Prozent in den Ingenieurwissenschaften und in Physik. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, werden jedoch viel mehr Frauen benötigt. Deshalb haben Politik und Wirtschaft zahlreiche Projekte ins Leben gerufen – Infoveranstaltungen, Studienberatungen, Girls Days, Projekttage und Schnupperpraktika. Die haben aber bislang nicht allzu viel gebracht, so lautet das Fazit einer 2011 veröffentlichten Studie des Kompetenzzentrums Frauen in Wissenschaft und Forschung. Der Frauenanteil in den Mint-Fächern, so die Studie, habe sich in den vergangenen 20 Jahren nicht grundlegend geändert. Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein. Ein wichtiger ist, da sind sich die Experten sicher: Es gibt für junge Frauen in diesen Bereichen nicht genügend Rollenvorbilder.

Das bereitet auch Uwe Freiherr von Lukas Sorgen. Er leitet das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung in Rostock. "Wir haben viele offene Stellen, aber schaffen es einfach nicht, diese mit kompetenten Leuten zu besetzen", sagt er. Das liege auch am Standort. Denn obwohl sich in der Hansestadt Einrichtungen wie das Marine Science Center, das Leibniz-Institut für Ostseeforschung oder das Institut für Physik der Universität befinden, locke die Stadt eher Touristen als Wissenschaftler an.

Vor allem aber fehlen die Frauen. "Unter unseren Absolventen sind es nur 10 bis 15 Prozent. Das ist viel zu wenig, da müssen wir etwas tun." Vor zwei Jahren hatte von Lukas "einen Geistesblitz", wie man einerseits Rostock und andererseits die technischen Fächer bei Mädchen beliebter machen könnte. Indem man zusammenbringt, was eigentlich gar nicht zusammengehört: seichte Fernsehunterhaltung und fundierte Wissenschaft.

Die Science-Soap arbeitet mit all den Irrungen und Wirrungen, die so etwas spannend machen für die Zielgruppe, Mädchen zwischen 14 und 20 Jahren. Das scheue Reh, die Karriere-Studentin, der Bösewicht, der Herzensbrecher, der strenge Vater – sie alle haben ihre Rolle in der Geschichte. Nur dass hier nicht ein angesagtes Viertel in München, Köln oder Berlin, sondern die Rostocker Wissenschaftswelt als Hintergrund dient. So spielen auch die dortigen Institutionen tragende Rollen, allen voran das Marine Science Center mit seiner telegenen Robbenstation.

Die Hauptdarstellerin Nele ist eine junge Frau, die von ihrer Familie festgezurrte Berufspläne und Rollenbilder erfüllen und bei ihrem Vater im Hotel arbeiten soll, in einem typischen Frauenberuf. Doch schon am ersten Tag lernt Nele einen süßen Physikstudenten kennen und bald auch einige junge Frauen, die Naturwissenschaften studieren. Zwischen Hörsaal, Labor und Strand bestehen die Mädchen nicht nur Herzens-, sondern auch akademische Abenteuer. Die Botschaft: Wissenschaft ist cool, wichtig und alles andere als nur etwas für Jungs.

Vielleicht unbeabsichtigt folgt von Lukas’ Geistesblitz einem Trend, der schon seit Jahren in den USA, dem Vorbild für Film- und Fernsehmacher weltweit, zu erkennen ist. Gerade in amerikanischen Jugendformaten wurden Nerds, also Leute, die sich für Computer und Technik interessieren, lange als verschrobene Außenseiter dargestellt. Doch in Zeiten, in denen reale Computerfreaks wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zu Milliardären aufsteigen, hat sich das auch in der Fiktion geändert. Mittlerweile sind Naturwissenschaftler die Helden von Comedyserien wie The Big Bang Theory oder anspruchsvollen Dramen wie Breaking Bad. Nerds sind heute cool. Doch auch in den USA sind sie meistens noch männlich.

Welche Auswirkungen es haben kann, wenn tatsächlich Frauen als Hauptfiguren in Unterhaltungsformaten mit naturwissenschaftlichem Hintergrund besetzt werden, zeigt die US-Serie CSI – Crime Scene Investigation, die auch in Europa hohe Einschaltquoten erzielt. Darin nutzen Frauen ihr wissenschaftlich-technisches Know-how, um jede Menge Kriminelle zu überführen. Ergebnis: In den vergangenen zwölf Jahren ist die Zahl der Forensik-Studentinnen in den USA um 64 Prozent angestiegen. In den forensischen Laboren des Landes arbeiten heute mit 60 Prozent deutlich mehr Frauen als Männer. "Viele junge Frauen hungern geradezu nach positiven Rollenvorbildern und brauchen solche Figuren, um sich an ihnen zu orientieren und ihnen nachzueifern", sagt Corinne Marrina, ausführende Produzentin und Autorin der Serie Sturm des Wissens. Das hat man nun auch in Deutschland erkannt.

Unter dem etwas sperrigen Namen Mintiff (Mathematik, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften im Fiction-Format) hat sich ein Netzwerk aus Film- und Fernsehschaffenden sowie Wissenschaftlern gebildet, um mehr Forschung ins Fernsehen und in die Kinos zu bringen, vor allem aber auch, um Frauen in neuen Rollenbildern zu zeigen.

Die Herausforderung ist groß. Denn wissenschaftliche Vorgänge sind, korrekt dargestellt, selten sexy. Ein Informatiker, der vorm Rechner Datensätze vergleicht, oder ein Biologe, der Bakterienkulturen beobachtet – spannend hört sich das nicht an. Deswegen werden diese Prozesse im Film gern stark vereinfacht und oft sogar falsch präsentiert, was Wissenschaftler wiederum maßlos ärgert.

In Rostock will man ein Beispiel dafür geben, wie sich diese unterschiedlichen Standpunkte vereinbaren lassen. Das Drehbuch der Serie entwickelten 16 Studenten der Kommunikations- und Medienwissenschaft unter Leitung der Professorin Elizabeth Prommer. "Dabei haben wir uns ständig mit den Wissenschaftlern der verschiedenen Institute darüber ausgetauscht, was man wie zeigen kann", sagt Prommer. Konflikte gab es jedoch auch hier. Denn vor allem das enge Zeitfenster der Serie, fünf Episoden zu jeweils zehn Minuten, ließ nur wenig Platz, um komplizierte Sachverhalte so zu erklären, dass auch die Experten rundum zufrieden waren. Als Moderator fungierte Ideengeber von Lukas. "Letztlich waren aber beide Seiten bereit, aufeinander zuzugehen. Sonst hätte das nicht funktioniert", sagt er. So konnten die besonderen Kenntnisse der Wissenschaftler sogar dazu beitragen, das Ganze anschaulicher zu machen: In einer Szene der Serie analysieren die Protagonisten Genome an einem DNA-Sequenziergerät. Wie das funktioniert, erklärt aber kein Schauspieler und auch keine Stimme aus dem Off. Auf einer zweiten Bildschirmebene werden vielmehr die Informationen für den Zuschauer eingeblendet. Eigens für den Film haben das die Grafiker im Rostocker Fraunhofer-Institut entwickelt.

Doch auf die Drehbuchschreiber kam noch eine weitere Herausforderung zu. Denn Formate mit pädagogischem Anspruch können schnell allzu schablonenhaft wirken und für Komik höchstens unfreiwillig sorgen. Das kennt man von zahlreichen Lehrfilmen in der Schule, aber auch von einigen Tatorten in der ARD. Prommer und ihren Studenten war das bewusst. Zwar hätten sie sich bei der Figurenentwicklung schon an anderen Serien orientiert, "aber wir haben uns immer wieder gefragt, ob es solche Menschen auch in der Wirklichkeit gibt". Was dabei herausgekommen ist, macht ihr Hoffnung. Natürlich würden sich durch die Serie nicht auf einmal Tausende Mädchen für ein naturwissenschaftliches Fach einschreiben. "Aber wir können ein wichtiges Puzzleteil dazu beitragen."

Immerhin: In Rostock hat das Projekt schon Begeisterung entfacht. Fast die ganze Stadt scheint bei der Umsetzung der Idee in irgendeiner Form mitzumachen. Die Darsteller sind Schauspielstudierende des dritten Studienjahres der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Regisseur und Filmteam stammen aus dem lokalen Filmkooperationsnetzwerk Rostocker Schule, das Institut für Neue Medien ist Kooperationspartner. Um die Vermarktung kümmert sich der Verein "Rostock denkt 365 Grad", der sich dem Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik in der Hansestadt verschrieben hat.

Auch das gemeinsame Ziel, junge Mädchen für Rostock und die Wissenschaft zu begeistern, funktioniert – zumindest im Film. Als die Kaffeemaschine im Hotel Sonne ausgeschaltet ist und die Szene weiterlaufen kann, verkündet die fiktive Nele ihrem Vater, dass sie ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau abgebrochen hat. "Papa, ich möchte Physik studieren", sagt sie stolz.

Ob sie damit wirklich zum Vorbild für ihre realen Altersgenossinnen taugt, wird man im November sehen. Dann wird die Serie dort gezeigt werden, wo heute weibliche Teenager zu Hause sind: im Internet. Junge Wissenschaftlerinnen als YouTube-Hit – vielleicht hilft das den Unis.

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DIE ZEIT
8. August 2013

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