Ein Tiki-Taka-Fan, aber kein Fundamentalist
Der neue Barça-Trainer bevorzugt wie seine Vorgänger das schöne Spiel. Gerardo Martino kann aber auch pragmatisch und könnte damit genau der Richtige sein.
Gerardo Martino – gut möglich, dass in den vergangenen Tagen kein Name so häufig gegoogelt wurde wie dieser. Schließlich geht es um den berühmtesten Fußballklub der Welt, den FC Barcelona. Und Martino war von all den Kandidaten, die als Nachfolger des wegen seiner Krebserkrankung zurückgetretenen Trainers Tito Villanova im Gespräch waren, in Europa der wohl unbekannteste.
Die Barça-Stars Pique, Puyol, Iniesta, Xavi und Busquets hingegen brauchen keine technische Hilfe, um sich an Martino zu erinnern. Im Viertelfinale der Weltmeisterschaft 2010 trafen sie mit Spanien auf die von Martino betreute Nationalmannschaft aus Paraguay. Und die No-Name-Truppe jagte den späteren Weltmeistern einen gehörigen Schrecken ein.
Spielerisch konnte die Mannschaft um den früheren Dortmunder Nelson Valdez nicht mithalten. Sie setzte auf Biss, Leidenschaft und taktische Disziplin. Martinos Strategie: Das spanische Kurzpassspiel schon im Ansatz zerstören und selbst immer wieder kontern. Das klappte so gut, dass nur der Torwart Iker Casillas und David Villas Tor in der 82. Minute eine spanische Blamage verhinderten. Für Paraguay war schon das Erreichen des Viertelfinales der größte Erfolg in der Geschichte.
Aus der Heimat von Messi – und Bielsa
Der FC Barcelona hat also einen Trainer eingestellt, der gezeigt hat, wie ein Team gegen das Barça-System bestehen kann, das ja auch die spanische Nationalmannschaft prägt. Gleichzeitig, und das ist vielleicht die entscheidende Besonderheit, gilt Martino als Verfechter eben dieses Systems: Ballbesitz, schnelles Verschieben aller Mannschaftsteile, Pressing überall auf dem Platz.
Bei Martino spielt sein Heimatort, Rosario in Argentinien, eine sehr wichtige Rolle. Aus Rosario stammt auch Lionel Messi. Martino ist mit Vater und Berater Jorge befreundet. Schon vor einem Jahr hatte Messi Martino als "großartigen Trainer" bezeichnet. Man kann davon ausgehen, dass sich Familie Messi für ihren Landsmann stark gemacht hat.
Noch wichtiger aber war eine andere Legende seines Heimatortes: Der Trainer Marcelo Bielsa. Bielsa gilt als eine Art Hohepriester des modernen Fußballs, auch wenn er kaum große Titel holen konnte. Zuletzt wurde er bei Barcelonas spanischem Konkurrenten Athletic Bilbao entlassen. Dennoch hat seine Art, Fußball spielen zu lassen – Rückeroberung des Balles tief in der Hälfte des Gegners, schnelles Umschalten, Ballbesitz als Form der Verteidigung – viele ungleich erfolgreichere Kollegen beeinflusst. Dazu gehören Tottenhams Andre Villas-Boas, Dortmunds Jürgen Klopp und nicht zuletzt Pep Guardiola. Bevor letzterer sein Amt bei Barcelona antrat, traf er sich mit Bielsa zum Abendessen, um über Taktik zu sprechen. Sie trennten sich erst nach zwölf Stunden.
Taktik erinnerte an Barcelona
Seine Theorien entwickelte Bielsa in den frühen Neunziger Jahren bei Rosarios Klub Newell’s Old Boys. Martino war Bielsa dabei näher als jeder andere. Als Spieler war er das, was Guardiola für Johann Cruyff und Xavi für Guardiola bei Barcelona waren – der rechte Arm des Trainers auf dem Spielfeld. So war es fast logisch, dass Martino den Verein auch als Trainer übernahm, als Newell’s 2012 der Abstieg drohte.
Innerhalb kürzester Zeit gelang es Martino, die Mannschaft zum Titelkandidaten zu machen. Dabei war die von den Einzelspielern her sicher nicht die stärkste der argentinischen Liga. Doch Martino schien für jeden Spieler die perfekte Rolle zu finden, das Team verteidigte und attackierte als Einheit. Die Taktik erinnerte dabei sehr an die von Barcelona. Martino ließ entweder im 4-3-3 oder im 4-1-4-1 System spielen.
Vor allem entdeckten die Spieler durch Martino einen zuvor nicht offenbarten Siegeswillen. Er führte Newell’s im komplizierten argentinischen Ligasystem zum Sieg der Rückrundenmeisterschaft. Und den Einzug ins Finale der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions-League, verhinderte nur ein verlorenes Elfmeterschießen gegen Atlético Mineiro aus Brasilien.
Martino, den alle nur "Tata" nennen, wirkte in Rosario oft wie eine Art Klon von Bielsa. Wie sein Vorbild trägt er Brille und undefinierbare Frisur, rennt wild gestikulierend an der Außenlinie herum, und scheint im Kord-Anzug zwischen Bücherbergen eigentlich besser aufgehoben als im Trainingsanzug auf dem Fußballplatz.
Doch er hat Bielsa eines Voraus: Er ist kein Fundamentalist. Bielsa betont stets, dass ihm die Art des Spielens wichtiger sei, als das Ergebnis. "Wenn alle Spieler Roboter wären, würde ich alles gewinnen", hat er einmal gesagt. Doch leider sind es Menschen, und denen schien wegen Bielsas extrem laufintensiven Stil stets am Ende der Saison die Puste auszugehen.
Ganz frei von dieser Gefahr sind auch die Mannschaften von Martino nicht. Auch Newell’s Form sank zwischendurch dramatisch ab, offenbar wegen der Überanstrengung der Spieler. Gerade in Barcelona, wo die Stammspieler in den vergangenen Jahren bis zu 60 Partien in einer Spielzeit absolvierten, könnte das zum Problem werden.
Doch gerade die Zeit mit Paraguay hat gezeigt, dass Martino durchaus pragmatisch sein kann, wenn es sein muss. Fußballästheten wie Bielsa, Cruyff oder Guardiola mögen sich mit Grausen abgewandt haben, als sie der Mannschaft zusahen: Reiner Ergebnisfußball, aber erfolgreich. Nach dem Viertelfinale bei der WM erreichte Paraguay das Finale der Copa America, mit zwei Siegen im Elfmeterschießen nach torlosen Viertel- und Halbfinals gegen Brasilien und Venezuela.
Vielleicht ist gerade diese Kombination aus Ästhetik und Pragmatismus die richtige für Barcelona. Der Verein steckt in einer wichtigen Phase. Martino muss es nicht nur schaffen, den für 50 Millionen Euro eingekauften Brasilianer Neymar in das Team zu integrieren ohne den bisherigen Alleinherrscher im Angriff, Lionel Messi, zu vergrätzen. Über kurz oder lang steht auch die Verjüngung des hochdekorierten Teams an. Ob ihm das gelingt, ist eine der spannendsten Fragen des europäischen Fußballs.
Fast sicher ist aber, dass eine Mannschaft unter Martino sich nicht so sang und klanglos in ihr Schicksal ergeben würde, wie es Barcelona im vergangenen Halbfinale der Champions-League gegen Bayern München tat. Eine Portion Tata kann das Tiki-Taka gut vertragen.
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