Dilmas Dilemma


Es sind die Anhänger der Präsidentin, die jetzt in Brasilien protestieren. Gegen Großveranstaltungen, auf die ihre Regierung so stolz ist.

Dilma Rousseff, die Präsidentin Brasiliens, ist schwere Prüfungen gewöhnt: Sie hat den Guerilla-Krieg gegen die Diktatur überstanden, 22 Tage Folter mit Elektroschocks, drei Jahre im Gefängnis und zudem auch noch Lymphdrüsenkrebs. Öffentlich hat sie nie geklagt. Doch dass die Brasilianer ausgerechnet gegen ihre Regierung so zahlreich demonstrieren wie seit dem Ende der Militärherrschaft nicht mehr, das hat die 65-Jährige, die in Brasilien alle nur Dilma nennen, sichtlich getroffen.

Bei der Eröffnung des Confed Cups buhten die Menschen sie aus, sie, die ihr ganzes Leben lang dafür gekämpft hat, dass diese Menschen ihre Meinung frei äußern dürfen. Es war peinlich. Rousseff schaute hilflos in der Gegend herum, sodass sich Fifa-Präsident Sepp Blatter genötigt fühlte, die Zuschauer im gebrochenen Portugiesisch um Respekt für ihre Präsidentin zu bitten. Mit dem Resultat noch lauterer Buhrufe. Rousseff, die eigentlich eine längere Rede vorbereitet hatte, las nur die Eröffnungsformeln ab und verschwand.

Als Spitzenpolitikerin ist das Rouseffs schwerste Phase bislang: 2012 lag ihre Zustimmungsrate bei 72 Prozent, noch in diesem Jahr erklärte das Forbes-Magazin sie zur zweitmächtigsten Frau der Welt hinter Angela Merkel. Sie schien die allgemein akzeptierte und anerkannte Wunschnachfolgerin Luiz Inácio Lula da Silvas – Lula, der "Vater der Armen" – zu sein.

Ganz anders als Erdoğan

Umso gespannter war das Land darauf, was Rousseff am gestrigen Dienstag sagen würde, einen Tag, nachdem insgesamt 250.000 Menschen in fast allen großen Städten protestiert hatten. Würde sie abwiegeln und herunterspielen, wie es die brasilianischen Politiker gern tun? Oder gar die Demonstranten diffamieren, wie Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei? Doch Rousseff entschied sich dafür, zu kämpfen: um die Gunst der Menschen auf der Straße. Und um den Sieg bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr, im Herbst nach der Fußballweltmeisterschaft.

Im Gegensatz zu Lula ist Rousseff eher als Technokratin denn als große Rednerin bekannt. Während der bauernschlaue Lula die Menschen mit seinem aufbrausenden Temperament mitriss, sorgte sie als seine penible Stabschefin dafür, dass die Zahlen stimmen. Lula erfand sie praktisch als Kandidatin, vor der Präsidentenwahl war sie nie in ein Amt gewählt worden. Doch diese Pressekonferenz am Dienstag war vielleicht ihr charismatischster Auftritt als Präsidentin.

Sie freue sich über die Proteste, sagte sie, die sie an ihre eigenen politischen Wurzeln in der Protestbewegung erinnerten. "Die Stimmen direkt von der Straße zeigen den wesentlichen Wert unserer Demokratie, dass die Menschen ihre Rechte einfordern. Und ich möchte den Menschen sagen, dass unsere Generation weiß, wie viel das gekostet hat", sagte sie. Es wäre ein Weckruf an alle Regierungsebenen, alles zu tun, um die Transportsysteme, Schulen und Krankenhäuser besser zu machen.

Bisher geht Protest nicht gegen Regierung

Doch natürlich verbirgt sich hinter den warmen Worten eine eiskalte Strategie. Rousseff, die sich in der Staatsverwaltung kontinuierlich nach oben gearbeitet hat, hat die Macht seit jeher fest im Blick. "Arbeit ist ihr Hobby", sagt man in Brasilia über sie. Nach dem Confed-Cup-Eröffnungsfiasko scheint sie genau analysiert zu haben, wie sie die für sie ungewohnte Situation der unzufriedenen Massen angehen will.

Ihr kommt zupass, dass sich die Proteste bisher kaum direkt gegen die Staatsregierung richten. Im Fokus waren vor allem die Gouverneure der Bundesländer und die Bürgermeister der Städte sowie die Gesetzgeber auf Bundesland- und Staatsebene – die direkt für die öffentlichen Dienste zuständig sind. Dort vermuten die Bürger die meiste Korruption. Auch hat sich aus den Protesten noch keine Führungsfigur herausgebildet, die den etablierten Parteien gefährlich werden kann.

Rousseffs Kalkül ist offenbar, als eines von vielen Angriffszielen der Protestler so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Deshalb verhandelt sie mit den unter Druck stehenden lokalen Machthabern wie São Paulos Bürgermeister Fernando Haddad und Sérgio Cabral, Gouverneur des Staates Rio de Janeiro, darüber, den Protestlern Zugeständnisse zu machen, um die Lage zu entschärfen. In fünf Städten, darunter den Bundeslandhauptstädten Recife und Porto Alegre, haben die jeweiligen Regierungen schon beschlossen, die Transporttarife zu senken. Die erhöhten Preise für Bus und Bahn waren ein wichtiger Antriebsgrund für die Massenproteste.

Die Städte putzen sich heraus

Das geht nicht ohne finanzielle Unterstützung vom Staat, die Rousseff prinzipiell zugesagt hat. Damit mag sich die Präsidentin eine Atempause erkaufen. Aber die Probleme werden nicht weniger. Denn die Wirtschaft des aufgewachten Riesen Brasilien wächst längst nicht mehr so märchenhaft wie unter Lula und während der ersten Jahre von Roussefs Präsidentschaft. Und das Modell "konservative Wirtschaftspolitik kombiniert mit aggressiven Sozialprogrammen", von Lula durchgesetzt und von Rousseff weitergeführt, kommt ins Wanken. Die Inflation, die das Land bis zur Jahrtausendwende gelähmt hat, bedroht das Land erneut. Und während sich die Städte für die kommenden Großereignisse für viel Geld herausputzen, fürchten viele, dort bald nicht mehr leben zu können.

Am gestrigen Abend besuchte Rousseff Lula in São Paulo. Während die Veteranen der Protestbewegung dort die Regierungsgeschäfte berieten, machten sich in derselben Stadt Tausende der neuen Generation auf den Weg zur Catedral da Sé. Die Proteste gehen weiter. Der nächste große Marsch in Rio ist für Donnerstagabend geplant.

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Zeit Online
19. Juni 2013

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