Weg mit dem Chef!
In der Berliner Unternehmensberatung partake gibt es seit einem halben Jahr keine Hierarchien mehr. Geht das?
Ein Tisch und eine Idee, mehr braucht Jürgen Erbeldinger nicht. Sobald ihm etwas einfällt, beginnt er auf dem Tisch vor sich herumzukritzeln. Wenn man einen neuen Gedanken hat, sagt er, müsse man ihn sofort festhalten können, ohne sich erst ein Blatt Papier zu suchen. Deswegen sind in der Beraterfirma »partake«, gelegen am Berliner Kurfürstendamm, alle Tische und auch die Wände beschreibbar. Erbeldinger ist hier der Chef. Oder besser, er war es. Denn auch seine radikalste Idee hat er nicht mehr losgelassen: Er hat sich quasi selbst abgeschafft. Vorgesetzte und Untergebene sollte es bei »partake« nicht mehr geben. Vor sechs Monaten war das, damals hieß die Beratung noch EE-Consultants, der neue Name partake leitet sich vom englischen Wort für »Teilhabe« ab. CEO ist Erbeldinger jetzt nur noch – auf dem Papier. Und was das in dem Haus mit 70 Mitarbeitern wert ist, beschreibt er so: »Ich habe meine Vorstandsurkunde auf’s Klo genagelt. Ich habe das wirklich physisch gemacht.« Damit es jeder versteht.
Denn damit haben neue Mitarbeiter am Anfang erst einmal Schwierigkeiten. Ein Unternehmen ohne Chef, wie soll denn das gehen, bitte. Einer muss schließlich die Entscheidungen treffen, vor allem die harten Dinge durchsetzen, die Richtung bestimmen. Und welcher Mitarbeiter würde effizient arbeiten ohne Vorgesetzten im Nacken, dessen Anweisungen man befolgen soll und dem man gefallen will? Gerade in Unternehmensberatungen ist das Hierarchiedenken traditionell besonders ausgeprägt. Wer dort an die Spitze will, muss vorher einige Karrierestufen erklommen haben. Beim Marktführer McKinsey etwa fängt der Absolvent eines Masterstudiums als Fellow an. Dann folgen Senior Associate, Projektleiter, Associate Principal und schließlich der Rang des Partners. Wer es nicht immer weiter nach oben schafft, muss gehen, up or out, wie es bei McKinsey heißt.
»Partake« hingegen richtet sich ganz nach dem »Freiwilligkeitsprinzip« aus, wie Erbeldinger es nennt. Die Beraterfirma entwickelt aus eigener Initiative auf potenzielle Kunden zugeschnittene Leistungen oder übernimmt konkrete Aufträge, beides macht ungefähr die Hälfte der Arbeit aus. So weit, so normal. Doch an welchem Projekt er arbeitet, das bestimmt jeder Mitarbeiter selbst. Er kann ein Projekt als Führungskraft, als vollzeitiges oder als teilzeitiges Teammitglied bis zur Marktreife vorantreiben.
Haben sich die Teams gefunden, können sie wieder frei wählen, wo sie an ihrem Projekt arbeiten wollen. In einem der verschiedenen Räume der Firma oder ganz woanders. Auch die Arbeitszeit teilen sich die Leute selbst ein. In einem »normalen« Unternehmen hat man 216 Arbeitstage, bei partake auch. Doch die Mitarbeiter müssen nur 180 Tage im Jahr nachweisen, die sie in welcher Form auch immer an Ideen und Projekten gearbeitet haben. Natürlich kann man auch die übrigen 36 Tage dazu nutzen, sich in der Firma weiter einzubringen. Man kann aber auch zuhause auf dem Sofa liegen.
Die große Einschränkung ist diese: Schafft es der Ideentreiber nicht, mindestens eine Person von seiner Idee zu überzeugen, wird die Entwicklung eingestellt, auch wenn es sich um einen lukrativen Auftrag handelt. »Wenn sich keiner von uns dazu motiviert fühlt, ein Projekt zu leiten, dann würden wir auch keine gute Arbeit abliefern«, sagt Erbeldinger. Das Gleiche gelte theoretisch, wenn während der Entwicklung die Teammitglieder abspringen, was ihnen erlaubt ist. Praktisch sei das aber noch nie vorgekommen, partake ist trotz seines Freiwilligkeitsprinzips seinem Kunden gegenüber zuverlässig. »Man unterschätzt da vielleicht das Pflichtbewusstsein. Die Leute wollen einander nicht hängen lassen. Man will ja auch wieder in anderen Teams mitarbeiten.« Schafft es jemand nicht, in eines der Teams aufgenommen zu werden, muss er sich überlegen, warum seine Fähigkeiten nicht gefragt sind. Das gilt für Gründer Erbeldinger ebenso wie für den frisch eingestellten Mitarbeiter.
Ist ein solches Modell nun ein Vorbote für einen grundsätzlichen Umbruch der Arbeitswelt? Oder ist es vor allem heiße Luft und Jürgen Erbeldinger ein idealistischer Spinner?
Sieht man sich bei partake um, denkt man eher an letzeres. Die Beraterfirma ist gerade aus Berlin-Mitte in den Westen gezogen, vieles ist hier noch Baustelle, das obere Stockwerk steht komplett leer. Auf 1200 Quadratmeter soll dort so etwas wie eine Spielwiese entstehen, auf der Ideen angeblich besonders gut gedeihen. In einem Raum wird man eine Kletterwand erklimmen können, samt Matte zum Fallenlassen. »Jeder Raum soll atembar sein, seinen eigenen Geschmack haben, zum Beispiel salzig«, sagt Erbeldinger. Und damit ist das Klischee vollständig bedient. Salzige Räume, Kletterwand, kein Chef – alles klar. Eine dieser typischen Berliner Firmen eben, die sich eigentlich im Sillicon Valley wähnen. Irgendwie hip und total innovativ, aber keiner kann in drei Sätzen erklären, wie man Geld verdienen will.
Irritierend ist, dass Jürgen Erbeldinger so ganz anders wirkt. Er ist 47 Jahre alt, promovierter Ökonom, hat vier Kinder, trägt Jeans und Pulli. Er bewegt sich bedächtig, die Stimme verlässt selten ihren fast geflüsterten Tonfall. Er redet über neuartige Führungs-Ideen, ohne je ins Managementsprech zu fallen.
Noch irritierender ist, dass zu den Kunden von partake die großen Fische gehören, Siemens, EADS, Vattenfall. Auch während der letzten sechs Monate, seit es keinen Chef mehr gibt. Laut Erbeldinger hat man den Umsatz in dieser Zeit sogar um mehr als 20 Prozent gesteigert. Man weiß zwar nicht, wie sich der Umsatz mit der üblichen Hierarchie entwickelt hätte, aber geschadet hat die radikale Umstrukturierung partake offenbar nicht.
Einigen großen US-amerikanische Unternehmen, die auch ohne Hierarchien arbeiten, scheint das ebenfalls gut zu bekommen. Der Tomatenverarbeiter Morning Star, Umsatz 540 Millionen Euro im Jahr, wächst nach eigenen Angaben zweistellig; der Textilhersteller W. L. Gore , bekannt für seine Marke »Goretex«, ist sogar seit mehreren Jahrzehnten fast hierarchiefrei, inzwischen erwirtschaften dort rund 8000 Mitarbeiter einen Umsatz von mehr als 1,5 Milliarden Euro. Die Ingenieure und Fabrikarbeiter wählen immer wieder selbst aus, wer die Führung übernimmt und wer zuarbeitet, Weisungshierarchien gibt es keine. Gerade das sei der Grund, heißt es von Gore, dass man innovativ bleibt und als Arbeitgeber beliebt ist. Das sieht man auch bei Giganten wie Google, General Electric und der Bio-Supermarktkette Whole Foods so. Hierarchien sind dort zwar noch vorhanden, doch ihr Einfluss nimmt stetig ab.
Für den Ökonomen Gary Hamel, laut dem »Wall Street Journal« der weltweit einflussreichste Management-Vordenker, sind das die Unternehmen der Zukunft. Dass Chefs so unentbehrlich sind, schreibt Hamel in seinem Buch »Das Ende des Managements«, finden nämlich vor allem Chefs. Um ihren Einfluss zu vergrößern und ihre treuen Gefolgsleute zu belohnen, würden sie beständig neue Hierarchieebenen kreieren. Die Folge sind wahre Befehlspyramiden. Wer an deren Spitze sitzt, fällt Entscheidungen, die nicht viel mit dem zu tun haben, was an der Basis wirklich nötig ist. Andererseits sitzen die Angestellten jahrelang auf einer Ebene fest und sind schnell frustriert. Dass so eine gute Idee den Weg nach oben findet, ist fast unmöglich. Auf irgendeinem der zahlreichen Entscheidungsstockwerke wird sich schon ein Bedenkenträger finden. Hamel fordert deswegen schlicht: »Feuert die Führungskräfte.«
Das wäre Jürgen Erbeldinger zu einfach. Aber die von Hamel beschriebenen Strukturen hat er auch im eigenen Unternehmen gesehen. »Die besten Ideen kamen einfach nicht durch. Gleichzeitig haben wir es selten geschafft, die Themen mit den dafür passenden Leuten zu besetzen, weil die mit anderen Dingen beschäftigt waren«, sagt er. Nach einer mehr als einjährigen internen Analyse kristallisierte sich heraus, dass auf Dauer nur die radikale Revolution von oben helfen kann.
Beim Gang durch die Räume der Beraterfirma hat man dennoch nicht das Gefühl, dass hier die Anarchie ausgebrochen ist. Und bei den Gesprächen mit den Mitarbeitern glaubt man, dass die Begeisterung in den Minen mehr ist als für die Medien aufgesetzt. Angela Haas, 33, hat sich einige Beratungshäuser angeschaut, wo sie ihre Fähigkeiten als Designerin mit ihrem Interesse für Management verbinden könnte, um Prozesse zu gestalten. »Bei den anderen war mir schnell klar, dass sie zwar sagen, sie suchten kreative Leute. Im Endeffekt haben sie aber klare Schemata, in die man hineingepresst wird. Hier kann ich mich so einbringen wie ich will und das Unternehmen mitformen«, sagt Haas. Das macht sie tatsächlich, denn bei partake arbeitet man nach den Prinzipen des »Design Thinking« (Denken wie ein Designer). Das Verfahren orientiert sich an der Arbeit von Designern. Jeder Arbeitsprozess ist eine Kombination paus Verstehen, Beobachtung, Ideenfindung, Verfeinerung, Ausführung und Lernen.
Selbstverständlich gehört auch die Expertise in Design Thinking zum Leistungsangebot der Beraterfirma.
Der 28-jährige Khalil Bawar wollte eigentlich Lehrer für Wirtschaft und Politik werden. Zu partake kam Bawar vor einem halben Jahr, um sich mal eine Firma von innen anschauen. Inzwischen hat er die Rückkehr in den Lehrberuf auf unbestimmte Zeit verschoben. Für die ersten drei seiner Ideen fand er keine Mitstreiter. »Das war auch frustrierend. Aber durch das genaue Feedback wurde mir umso klarer, was ich verbessern muss«, sagt er. Die vierte Idee war ein Analyseverfahren, mit dem sich Politiker besser in die Alltagssorgen ihrer Wähler hineinversetzen können. Sie gehört jetzt zum Firmenportfolio und Bawar ist immer noch dafür verantwortlich. »So eine Bestätigung hat man als Einsteiger selten.«
Eine kuschelige Wohlfühloase in der Wirtschaftswelt ist die Beraterfirma dennoch nicht. Im Gegenteil. Das Freiwilligkeitsprinzip führt dazu, dass das Unternehmen sich streng nach den Prinzipien der freien Marktwirtschaft ausrichtet. Das soll in Zukunft auch für das Gehalt gelten. Schon jetzt legen auch einige fest angestellte Mitarbeiter ihren eigenen Wert in Form von Tagessätzen fest. Und merken ziemlich schnell, wenn sie sich überschätzt haben, weil sie zu diesem Tarif niemand ins Team aufnehmen will. Andererseits wird vielen klar, wie wichtig Buchhhalter oder Administratoren tatsächlich sind. Denn ohne deren Kernarbeiten bekommen selbst die kreativsten Köpfe ihre Ideen nicht durch. »Die Mitarbeiter werden zu Unternehmern im Unternehmen«, fasst Erbeldinger zusammen. Was auch heißt, dass er sich um die klassischen Aufgaben eines Chefs nicht mehr zu kümmern braucht. »Motivation und Controlling übernehmen die Teams ganz von allein«.
Doch genau in dieser Vermarktlichung liegt auch eine große Gefahr, sagt der Chemnitzer Soziologe G. Günter Voß. Im Auftrag des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin forscht er über die Ursachen der zunehmenden physischen Erkrankungen als Folge von Arbeitsbelastungen wie etwa Burnout. Wenn die Freiheiten ambivalent sind, sagt Voß, und die Herrschaftsformen indirekt und diffus werden, gerieten die Menschen in regelrechte Fallen: Sie sollen »selbstverantwortlich«, »innovativ« oder »unternehmerisch« handeln, werden allerdings gleichzeitig überwacht. Zwischen diesen Polen würden sie oft innerlich zerrieben. Die Selbst-Organisation führe zudem fast überall dazu, dass man nicht mehr so recht einschätzen kann, wann es genug ist: »Wann etwa ist die erbrachte Leistung ausreichend, so dass man mit sich zufrieden sein und entspannt seinem Privatleben nachgehen kann?«, fragt Voß.
Der Gefahr, dass sich die Mitarbeiter so sehr für die eigenen Projekte begeistern, dass sie sich überanstrengen, ist Jürgen Erbeldinger durchaus bewusst. Dem soll zum einen die 180-Tage-Regelung entgegenwirken. Außerdem setzt er auch hier auf die Selbstkontrolle der Teams. »Wenn einer nicht mehr kann, merken das die anderen sofort.« Und es gibt ja keine Vorgesetzten mehr, denen sich keiner traut zu sagen, dass sie doch nach Hause gehen können.
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