Keine Angst vor schweren Jungs


Der Philosoph David Kennedy steht symbolisch wie kein anderer für die Prävention und Lösung im Kampf gegen die Drogenbarone. Warum Verbrechen wenig mit CSI und viel mit Philosophie zu tun hat, erklärt Constantin Wißmann in seinem Portrait über den Amerikaner Kennedy

[SC]Seine Lebensaufgabe findet David Kennedy im Dezember 1985 auf dem Rücksitz eines Streifenwagens, der durch die Nacht von Los Angeles fährt. Er begleitet zwei Polizisten auf Patrouille durch Nickerson Gardens, ein soziales Wohnungsprojekt im Stadtteil Watts.

Dort sollten einige Jahre später die Rassenunruhen ausbrechen, nachdem Polizisten den Afroamerikaner Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten.

Als Kennedy aus dem Auto steigt, hat er eine solche Angst wie nie zuvor oder danach. Es sieht nicht aus wie im Herzen der westlichen Gesellschaft, eher wie im Film „Blade Runner“. Als Drogenkuriere umherlaufende Kinder. Cracksüchtige mit von der Pfeife ausgehöhlten Gesichtern. Verrammelte Fenster, aufgeplatzte Straßen, Dreck, Müll, leere Flaschen. „Ich stand da“, erzählt Kennedy, „und sah, wie die Zivilisation auseinanderbricht.“ Er beschließt, die Städte in den USA von der Krankheit zu befreien, an der sie leiden wie an einem Krebsgeschwür und die als unheilbar gilt – das Morden und der offene Drogenmarkt. So erzählt es Kennedy im neunten Stock eines Büroturms in der feinen Upper West Side New Yorks. John Jay College, Hochschule für Kriminologie.

Vor 25 Jahren war Kennedy ein angehender Schriftsteller und hielt sich nach seinem Philosophiestudium als Schreiber von Fallstudien über Wasser. Eine formale Ausbildung zum Kriminologen hat er bis heute nicht. Vielleicht ist das sein größter Vorteil. Er hat sein Metier auf den Straßen der No-Go-Areas gelernt. Heute leitet er das „Zentrum für Verbrechensbekämpfung“. Der schlaksige Mann mit der langen braunen Mähne und dem Zottelbart passt eigentlich nicht in diese klinisch reine Umgebung. Doch der 53-Jährige fühlt sich im Büro genauso in seinem Element wie draußen in den Städten.

Auf einer Wandtafel hinter seinem Schreibtisch ist ein großes Spinnennetz gezeichnet, mit mehr als 60 Städtenamen. Es ist das Diagramm der „Operation Ceasefire“ (Waffenstillstand). Ein Netzwerk aus Justizbeamten, Sozialarbeitern, führenden Kräften im Gemeinwesen und Akademikern im Kampf gegen Mord und Drogen. Im College laufen alle Fäden zusammen. Das Diagramm ist ein Abbild von Kennedys Lebenswerk. Der persönliche Preis dafür ist hoch: Über seine Frau und Kinder will Kennedy nicht sprechen, seit er mehrere Morddrohungen erhalten hat.

Kennedys Erfolg ist überwältigend. In Boston, der ersten Station seines Programms, reduzierte sich die Mordrate unter Jugendlichen innerhalb von sechs Monaten um 71 Prozent. Vergleichbare Zahlen gibt es in Cincinnati und Chicago. Jetzt will Kennedy seine Methode zum landesweiten Standardverfahren machen. Den großen Teil der vergangenen 25 Jahre hat Kennedy an Orten verbracht, wo Weiße selten und Akademiker nie hingehen. In Häusern, aus denen sich alte Frauen nicht hinaustrauen. In engen Büros von überforderten Sozialarbeitern. In Streifenwagen mit zynischen Polizisten. Kennedy hörte allen zu. Ihm wurde klar, was vielleicht nur einer, der seine Abschlussarbeit über Immanuel Kant geschrieben hat, verstehen kann: dass alle Beteiligten in ihrem Kontext rational handeln und die Vernunft verschwindet, wenn es um die anderen geht.

Viele Justizbeamte halten schwarze Männer für Psychopathen, gegen die nur Wegsperren hilft. Schwarze in den No-Go-Areas glauben, dass die Regierung bewusst nichts unternimmt, um ihre Aufstiegschancen klein zu halten. Akademiker und Sozialarbeiter sind überzeugt, dass die Täter eigentlich Opfer der Gesellschaft, des institutionellen Rassismus und des schlechten Schulsystems sind.

Kennedy hält allen Parteien seine empirischen Untersuchungen entgegen. Die zeigen, dass nur wenige Menschen in den berüchtigten Vierteln für die große Mehrheit der schlimmsten Verbrechen verantwortlich sind. Und dass eigentlich alle Gruppen nur eines wollen: das Ende der Morde. Sogar die Drogendealer wollen das, denn schwere Verbrechen erregen Aufmerksamkeit, und die ist schlecht fürs Geschäft.

Daraus entwickelte Kennedy sein Programm, das genauso radikal wie einfach ist. Es bringt die größten Straftäter zusammen. Ihnen wird mitgeteilt, dass sie mit dem Morden und dem offenen Verkauf von Drogen aufhören sollen. Wenn sie es nicht tun, wird die Polizei sich mit aller Macht auf sie konzentrieren. Wenn sie es aber tun, wird ihnen dabei geholfen, einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Beide Versprechen werden kompromisslos gehalten. Die meisten Kriminellen lassen sich darauf ein.

In High Point, North Carolina, gab es einen offenen Drogenmarkt, 20 Jahre lang bekämpften sich dort Polizei und Gangs. Nur einen Tag nach der ersten Sitzung von Kennedys Programm waren keine Drogen mehr zu sehen. Drei Monate später lud die Gemeinde die Polizisten zum Grillen ein.

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Cicero
Dezember 2011

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