Menschen bei Starbucks


Der Expopstar Kim Frank über die Qual der Wahl

Vor zehn Jahren hätte das eine Massenhysterie ausgelöst. Kim Frank betritt ein Café in Berlin-Mitte. Vor zehn Jahren war Kim Frank neunzehn Jahre alt, Sänger der Gruppe "Echt" und vielleicht der erste wirkliche deutsche Popstar. Er sah aus wie ein trauriger Engel im Schul-Krippenspiel und sang so dreckig und wehmütig wie Rio Reiser. Die Frauen wollten ihn tröstend in den Arm nehmen und dann sein Hemd aufreißen. Teenies und Steuerfachgehilfinnen schmachteten den blassen Jungen mit den langen Haaren und diesem verruchten Blick gleichermaßen an. Und auch die Jungs hörten seine Lieder ganz gern, die auf Deutsch von Alltagsproblemen handelten, ohne peinlich zu sein.

Jetzt dreht sich keiner mehr nach Kim Frank um. Er sieht auch nicht mehr aus wie ein Engel, sondern wie ein Philosophiestudent im 18. Semester. Strähnige Haare, Vier- oder Fünftagebart, Brille. Jackett, T-Shirt, Hose - alles schwarz, die Uniform der Existenzialisten. Passt ja auch, denn Kim Frank ist jetzt Schriftsteller. Gerade ist sein Debütroman "27" erschienen. Davor war er Schauspieler, Fotograf und Regisseur. Gesungen hat er schon lange nicht mehr. Es ist viel passiert in zehn Jahren. Zum Beispiel hat sich in Deutschland die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks etabliert, wo wir Kim Frank treffen.

Die Starbucks-Filiale am Berliner Hackeschen Markt sieht gar nicht so aus wie ein Kettengeschäft, obwohl sie das natürlich durch und durch ist. Es gibt viel Platz, die Farben sind warm, und man kann sich auf elegante Holzstühle setzen oder in flauschige Sofas fläzen. Trotzdem ist da diese Scheu, dieser Zweifel, diese Angst. Die Angst vor der Theke. Man kann hier nämlich einen Kaffee bestellen. Oder einen Double-Shot-Caramel-Frappuccino mit Zimt obendrauf. Insgesamt gibt es 87.000 Getränk-Kombinationen, damit jeder seinen individuellen Lieblingskaffee trinken kann. Das Blöde ist nur, dass man sich innerhalb von Sekunden entscheiden muss. Was ist ein Frappuccino überhaupt? Von hinten spürt man schon den Atem der wachsenden Menschenschlange. Also nur ein "Milchkaffee, ohne alles". Beim ersten Schluck aus dem riesigen amerikanischen Becher setzt dann der Ärger ein. Hätte der mit Zimt nicht doch besser geschmeckt?

Kim Frank ist das egal. "Ein Croissant und ein Latte", sagt er zu der Frau am Tresen, schnell und bestimmt, so dass die sich gar nicht traut, all die Möglichkeiten aufzuzählen. Je mehr Auswahl, desto besser - das ist nicht nur das Prinzip von Starbucks, sondern das der westlichen Demokratien. Man kann gar nicht genug davon haben, denn mit jeder neuen Wahlmöglichkeit vergrößert sich die Freiheit ein Stück. Auf den ersten Blick klingt das vernünftig, aber wenn man dann vor 87.000 Kaffeesorten steht und sich nicht entscheiden kann, lässt man es oft lieber ganz bleiben. Die Freiheit kehrt auf einmal in Einschränkung um. Kim Frank weiß genau, wie sich das anfühlt. Auf die Frage, was sein größtes Problem sei, hat er einmal gesagt: "Zu viel Freiheit."

Dabei wollte er mit 16 nur das: frei sein, rauskommen. Raus aus der Schule, die für den sensiblen musischen Jungen von Anfang an nur eine Qual war. Raus aus Flensburg, diesem nördlichsten Zipfel Deutschlands, der hauptsächlich für das Verkehrszentralregister berühmt ist. Raus aus der Wohnung, die so eng war, dass die Mutter auf der Couch übernachtete. Morgens ging sie putzen und abends Pakete einwerfen, um die Familie, in der der Vater fehlte, durchzubringen. Eine Tür hinaus war das Trinken, mit 14 hatte Kim Frank seinen ersten Vollrausch. Und eine Tür war die Musik.

"7up" ist eine Unterstufenband, die sich zwar sehr ernst nimmt, aber trotzdem nie daran denkt, südlicher als Schleswig aufzutreten. Doch dann geht es auf einmal ganz schnell. Die Band wird entdeckt, umbenannt - und geht ab. Die erste Single "Alles wird sich ändern" kommt in die Charts, ohne im Radio gespielt worden zu sein. Plattenverkäufer, Manager und Bravo-Redakteure werden ganz wuschig. Hier ist sie, die deutsche Antwort auf Take That. Und die pubertierenden Jungs konnten sogar Instrumente spielen.

Die Maschinerie läuft an. "Echt" spielt 300 Konzerte im ersten Jahr, 160 im zweiten. Das ist harte Arbeit, aber eben auch ein großes Vergnügen. Und Kim Frank greift mit mit beiden Händen zu. Er ist noch nicht 18, aber wohnt in Luxussuiten und in Hamburg-Blankenese, feiert auf jeder Party und schläft mit den schönsten Frauen. "Ich habe überhaupt keinen Grund gesehen, mich da irgendwie zurückzuhalten", sagt er heute. Der Erfolg geht weiter. Das Lied "Du trägst keine Liebe in Dir" kann bald jeder Deutsche mitsingen, das Album "Freischwimmer" klettert auf Platz 1 der Charts und bekommt Gold, die Band einen Bambi. Aber Kim Frank will mehr. Aus "Echt" will er alles herausholen, in die Stadionliga kommen und zwar mit eigenen Songs.

Die spielt die Band für das dritte Album "Recorder" ein - und kommt hart auf dem Boden auf. Die CDs bleiben in den Läden, die Tour muss mangels Interesse abgesagt werden, Plattenfirma und Management wenden sich ab, "Echt" fällt auseinander und Kim Frank in ein tiefes Loch.

Die Zeit danach nennt er heute "meine dunkle Zeit". Er war ausgelaugt, suchte nach Ruhe und kaufte sich ein Haus an der Ostsee. Zum ersten Mal seit Jahren wacht er morgens auf, ohne einen festgelegten Tagesablauf vor sich zu haben. Kim Frank schläft aus, kifft, geht am Strand spazieren, lädt Freunde ein und guckt sich Filme an. Doch es gibt auch die anderen Tage. "Ich stehe auf, wenn's dunkel wird, und gehe ins Bett, wenn die Sonne aufgeht. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich futter Cornflakes, glotz Fernsehen, onanier fünfmal am Tag. Was man halt so macht, wenn man gar nichts macht", das erzählt Mika, die Hauptfigur in Kim Franks Buch. War das bei ihm auch so? "Na ja", sagt Frank, "ich esse keine Cornflakes."

Frank spricht darüber mit Freunden und Bekannten und findet eine Ursache des Problems. Die Freiheit. Ein Bäckerssohn wäre früher wohl einfach Bäcker geworden und hätte sich damit irgendwie arrangiert. Heute kann er - einen guten Schulabschluss vorausgesetzt - zwischen unzähligen Ausbildungen oder Studienfächern wählen und dann noch ein Praktikum machen und dann noch ins Ausland gehen und dann noch Surflehrer am Great Barrier Reef werden. "Ich sehe immer wieder, dass Leute damit einfach nicht klarkommen", sagt Frank. Viele würden dann lieber gar nichts machen, wie Mika, und wie er selbst an manchen Tagen.

Doch es gebe auch die andere Seite. Der gesellschaftliche Zwang, ständig flexibel zu sein. "Früher konnte der Bäckerssohn davon ausgehen, nach der Lehre den Meister zu machen und dann vielleicht die Bäckerei zu übernehmen. Diese Sicherheit gibt es nicht mehr." Hinzu käme die immer höhere Lebenserwartung. "Da kommt ja noch eine neue Jugend hintendran, man ist also gezwungen, zwei bis drei Leben zu leben." Ist einem das schon in der richtigen Jugend bewusst? "Das weiß ich nicht, aber es wird einem auf jeden Fall anerzogen."

Wie schwer es mit so einer Last ist, überhaupt etwas anzufangen, spürt Kim Frank täglich. "Ich muss jedes Mal wieder die Versagensangst überwinden." Dazu kommen Panikattacken, einfach so, er weiß nicht, woher. Aber er sei ein Kämpfer, schon von Geburt an. Halbseitig gelähmt war er da und eigentlich schon tot.

Doch er hat sich durchgekämpft, schon als Baby, und so hält er es auch jetzt. Eine zweite Solomusikkarriere hört nach einem Album wieder auf. Als Schauspieler spielt er die Hauptrolle in Detlev Bucks Film "NVA" und dann nichts mehr. Er dreht Musikvideos von Künstlern, die keiner kennt. Er schreibt ein Buch über einen Musiker, der Angst vorm Sterben hat, das einige Kritiker verreißen. Man kann das so sehen.

Man kann das aber auch so sehen: Kim Frank war einer der erfolgreichsten Musiker, die es in Deutschland gab, spielte die Hauptrolle in einem Kinofilm, dreht Musikvideos und schreibt einen Roman, der im Rowohlt Verlag veröffentlicht wird. "Ich möchte Geschichten erzählen, egal wie. Und Bücher schreiben, ich dachte, das darf man überhaupt nicht, so ohne Abitur", sagt er.

Und der Kaffee? "Gut, ich bin zufrieden." Er wirkt nicht wie einer, der sich über etwas wie fehlenden Zimt ärgert.

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die tageszeitung
04. Juli 2011

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