Privileg des Privaten

Im Homeoffice gibt es flexible Arbeitszeiten, keine Staus und Endlos-Meetings mehr. Dennoch leiden viele darunter, auch jüngere Arbeitnehmer. Wie sinnvoll ist die neue Arbeitswelt nach Corona wirklich?

Cicero Magazin
Juni 2020

Bis Anfang März, als die Welt, wie wir sie kannten, noch nicht aus den Fugen war, arbeitete Luisa Wandig* überall – mal in ihrem Büro in Berlin-Mitte, in Konferenzräumen von Firmen in Genf, London oder Abu Dhabi, mal in Hotelzimmern, in Flughäfen und Flugzeugen. An einem Ort arbeitete die 31-jährige Unternehmensberaterin aber nur dann, wenn es gar nicht anders ging: zu Hause. Da ploppte, als sie gerade bei einem ihrer wichtigsten Kunden in Genf im Konferenzraum saß, im E-Mail-Postfach eines Mitarbeiters die Nachricht auf:Es gebe in der Firma einen Covid-19-Fall, alle internen und externen Mitarbeiter sollten so schnell wie möglich das Gebäude verlassen.

Luisa Wandig, groß und schlank, blonde lange Haare, ein paar Sommersprossen, ging ins Hotel und rief ihren Chef an. „Mir war sofort klar, dass ich ab jetzt im Homeoffice sein würde“, erinnert sie sich. Sie flog zurück nach Berlin. Seitdem arbeitet sie am Esstisch in der Küche ihrer Wohnung in Kreuzberg. Zwei Tage später ordnete ihr Unternehmen für alle 500 Mitarbeiter weltweit Homeoffice an – auf unbestimmte Zeit. Der Nachrichtendienst Twitter verkündete Mitte Mai einen Umbruch seiner Arbeitskultur. Wer von zu Hause aus
arbeiten könne und wolle, dürfe das auch künftig tun – für immer.

Arbeiten von zu Hause, das klingt für viele Angestellte eigentlich verführerisch, irgendwie gemütlich und doch zeitgemäß effizient. Mit all den Apps und Tools in unseren Smartphones und Laptops muss keiner mehr dem Wind und Regen auf langen Arbeitswegen trotzen. Kein Stau in der Rushhour, kein Gedränge schwitzender Menschen in den U-Bahnen und Bussen. Keine Endlos-Meetings, in denen dann beschlossen wird, ein weiteres Meeting abzuhalten. Keine Brainstorming-Sitzungen, die eigentlich Hahnenkämpfe neurotischer Manager sind. Keine fixierte Arbeitszeit von neun bis fünf, ein Anachronismus aus der Industrialisierung, sondern arbeiten,wann es individuell am besten passt.

Homeoffice, das war bei vielen Firmen vor Corona wie ein Zuckerl, das sie in petto hatten, um ihre Mitarbeiter glücklicher zu machen oder überhaupt Bewerber zu bekommen. Und viele nahmen es gern an.
Etwa jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitete auch bisher von seiner Wohnung aus. Seit Wochen aber macht das Virus SARS-CoV-2 aus der Wahl des Homeoffice einen Zwang – und er dauert weiter an.

Tatsächlich soll ein Drittel aller Berufe in Deutschland Home office-fähig sein, schätzt der Soziologe und Arbeitsmarktforscher Werner Eichhorst. Wer kann, muss jetzt auch. Eichhorst, der am Institute of Labor Economics in Bonn forscht, geht davon aus, dass derzeit 25 bis 30 Prozent aller Arbeitnehmer zu Hause arbeiten.

Aber bleibt diese Ausnahme, die für viele auch eine Extremsituation darstellt, bestehen? Die spannende Frage ist, ob all diese Menschen wirklich ins Büro zurückkehren, wenn es wieder geht. Oder werden all die Kolosse aus Stahl und Glas, ob am Berliner Potsdamer Platz, im Frankfurter Bankenviertel oder an der New Yorker Wall Street dann weiter so gespenstisch leer stehen wie jetzt? Nicht ohne Grund rechnet die Flugbranche auch
künftig mit deutlichen Ausfällen beim Geschäftsreiseverkehr. Erstens, weil viele Unternehmen merken, dass es
auch ohne funktioniert hat. Zweitens, weil viele Firmen angesichts vom Sparzwang der Null-Umsätze insbesondere auf ihre Reisebudgets schielen.

Der Forscher Werner Eichhorst sagt, wir würden derzeit ohnehin einen Transformationsprozess erleben. Arbeitgeber würden versuchen, immer mehr Tätigkeiten ins Homeoffice zu verlegen. Barclays-Chef Jes Staley hat bereits grundsätzlich spekuliert, dass die Idee, 7000 Menschen in ein Gebäude zum Arbeiten zu stecken, bald Vergangenheit sein könnte. Sollte das so kommen, wären die Konsequenzen weitreichend – nicht nur für die Art zu arbeiten, sondern auch für die Art zu leben. Wer etwa will noch auf engstem Raum in der Stadt leben wollen, wenn er nicht mehr zur Arbeit pendeln muss? Ließe sich mit der Kamera am heimischen Laptop noch das Klima retten, weil wir nicht mehr für ein Meeting um die halbe Welt jetten? Nur wie ergeht es den Menschen, die nun nicht mehr zu Hause arbeiten dürfen, sondern müssen?

„Eher geht so“, sagt Anna Scheuermann derzeit. Die 42-jährige Architektin leitet die Kommunikation bei einem Ingenieurbüro in Frankfurt jetzt von ihrer Offenbacher Wohnung aus. Aber nur, solange nicht eine ihrer beiden Töchter angerannt kommt und die Mutter fragt, ob sie nicht bei der Matheaufgabe helfen könne.

Scheuermann arbeitet am Esstisch im Wohnzimmer, in einer Art Arbeitsnische am anderen Ende des Flures sitzt ihr Mann an seinem Job, die Mädchen, sieben und elf, in ihren Kinderzimmern an den Aufgaben, für die sie sonst in die Ganztagsschule gehen.

Es ist kein Wunder, dass sich Anna Scheuermann „überall dazwischen“ fühlt. „Man kann weder die Kinder richtig betreuen noch die Arbeit richtig machen, und da leidet dann alles drunter“, sagt sie. Öffnen die Schulen, könnte sich das aber wieder entspannen. „Homeoffice an sich“ findet Scheuermann gut. Vor Corona hat sie oft bei ihren Chefs nachgefragt, ob sie auch mal von daheim arbeiten könne, die wollten das nur in absoluten Ausnahmefällen. Projektleiter sollten anwesend sein, damit Entscheidungen schnell getroffen werden könnten, so das Argument. „Jetzt merken die: Hoppla, es geht ja doch“, sagt sie. Es wundere sie
selbst, wie reibungslos einige Video-Meetings funktionieren.

Über die Realität für Menschen wie Anna Scheuermann oder Luisa Wandig, die quasi über Nacht im Homeoffice gelandet sind, weiß Christian Ernst wohl am meisten zu berichten. Der Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften der TH Köln hat für eine Ad-hoc-Studie 900 Homeoffice-Arbeiter nach ihrem aktuellen Befinden befragt. Auch er war von den Ergebnissen „überrascht“. 71 Prozent von denen, die erst seit Corona regelmäßig zu Hause bleiben, seien mit der Situation zufrieden. Und das nicht, weil sie jetzt die Beine hochlegen können, was eines der gängigen Klischees ist. 42 Prozent gaben an, sie würden zu
Hause effektiver arbeiten, gegenüber nur 20 Prozent, die sich am Arbeitsplatz produktiver fühlen.

Mittlerweile hat der Arbeitsforscher seine eigene mit anderen Befragungen verglichen, und die Ergebnisse ähneln sich stark. Und das, obwohl die plötzliche Umstellung teilweise schwergefallen sein müsste, vor allem, wenn gleichzeitig die Kinderbetreuung weggebrochen ist wie bei Anna Scheuermann. Von den „erfahrenen“ Zu-Hause-Arbeitern seien sogar 85 Prozent zufrieden.

Alles geklärt also? Wenn die meisten Menschen lieber und besser zu Hause arbeiten, wird in Zukunft nur noch eine Minderheit ins Büro stapfen? Für Christian Ernst wäre das allerdings ein viel zu voreiliger Schluss. Bei der
Produktivität seien die Zahlen eben auch ein Selbstbild, die müsse man mit Vorsicht genießen. Und ob die generelle Zufriedenheit auch über einen längeren Zeitraum anhält, daran gebe es einige Zweifel. Immerhin zwei Drittel der Studienteilnehmer klagten darüber, ihnen würden die sozialen Kontakte bei der Arbeit und der Austausch mit den Kollegen fehlen. „Ich habe den Eindruck, dass viele das wegwischen, als sei das nicht so wichtig. Dabei kann das entscheidend für das allgemeine Wohlbefinden sein.“
Wie wichtig der „echte“ Kontakt tatsächlich ist, haben bereits mehrere neurowissenschaftliche Studien gezeigt.

Wer lange isoliert lebt, schätzen Wissenschaftler, erhöht das Risiko eines frühzeitigen Todes ebenso stark wie jemand, der 15 Zigaretten am Tag raucht. In der Einsamkeit schrumpft zudem der Hippocampus, der Teil des Gehirns, der mit Lernen, Gedächtnis und räumlichem Bewusstsein befasst ist. Weniger dramatisch, aber auf das Arbeitsleben bezogen, scheinen wir auch lieber vor Ort zusammenzuarbeiten als allein auf den Bildschirm zu starren. Und davon wiederum profitieren Unternehmen und Angestellte. Gute Ideen entstehen wohl auch eher beim Plaudern in der Küche als am Schreibtisch allein. Karrieresprünge sind selten dem alleinigen Durchpauken eines Projekts zu verdanken und viel öfter dem Gespräch auf dem Weg zum Mittagessen oder der Aufforderung einzugreifen, wenn jemand anderes zu beschäftigt war.

Die Unternehmensberaterin Luisa Wandig, gewohnt, ständig Kosten-Nutzen-Rechnungen zu erstellen, quantifiziert die Differenz zwischen Homeoffice und Office ganz nüchtern. „Weil die schnellen Absprachen fehlen, das spontane Treffen im Flur oder in der Küche, habe ich jetzt drei Mal so viele Meetings wie sonst.“ Kürzlich habe sie an einem Tag 23 Telefongespräche führen müssen, quasi ununterbrochen von 8.30 Uhr bis 21 Uhr. An die Arbeit zu Hause hat sie sich mittlerweile gewöhnt. „Doch ich merke wirklich, dass mir der
physische Kontakt zu den Kollegen fehlt."
Vielen Kollegen gehe es inzwischen ähnlich, und vor allem die Jüngeren würden daran geradezu leiden. „Wenn man etwa einen Rat von einem Vorgesetzten braucht, geht das persönlich im Büro schnell und einfach, von zu Hause aus müsste man aber erst einmal anrufen oder eine E-Mail schreiben. Da ist die Hemmschwelle dann viel größer“, sagt Wandig.

Nicht umsonst gibt es so viele technische Hilfsmittel, die sich bemühen, die analoge Arbeitswelt möglichst authentisch nach Hause zu bringen. Plattformen wie Zoom (Video, Meetings), Google Hangouts (Video, Konferenzen) oder Slack (Text, Bürogebrabbel) erleben einen Boom, auch wenn die Technologie an sich längst
nicht mehr neu ist. Die Firmen des Silicon Valley, in denen die meisten dieser Apps und Tools entstanden sind, haben bemerkenswerterweise jahrelang eher das Gegenteil von Homeoffice propagiert. Anstatt zu Hause wie im Büro arbeiten zu können, sollten sich die Mitarbeiter umgekehrt am Arbeitsplatz wie zu Hause fühlen. Google oder Facebook haben dieses Prinzip mit zahlreichen „Perks“ wie etwa einem hauseigenen Masseur auf die Spitze getrieben. Andere Tech-Firmen hingegen, die das Homeoffice eigentlich ausbauen wollten wie Yahoo oder der Unterhaltungselektronikhändler Best Buy hatten ihre Mitarbeiter vor Corona längst wieder zurück ins Büro beordert.

Die Firma WeWork basierte ihren sagenhaften Aufstieg genau auf dem Geschäftsmodell, dass auch viele Selbstständige lieber zusammen als allein arbeiten, und bietet praktisch im großen Stil Büros für die ZuHause-Arbeiter an. Der analoge Kontakt von Angesicht zu Angesicht ist offenbar doch nicht so einfach zu ersetzen. Warum dem so ist, können auch Wissenschaftler nur ansatzweise erklären. Je mehr Augenkontakt Menschen beispielsweise während eines Gesprächs haben, desto synchroner verhalten sie sich offenbar. Bei Videoanrufen hingegen blickt man auf einen winzigen Punkt, der Kamera im Computer oder Handy, um den Eindruck zu erwecken, man würde dem Gegenüber in die Augen schauen. Doch das ist nicht dasselbe und hat nicht die gleiche Wirkung. In einer Studie wurden die Teilnehmer gebeten, eine fünfminütige Rede und die Lösung einer Rechenaufgabe vorzubereiten, um beide dann vor Publikum vorzutragen. Die Teilnehmer bekamen entweder persönliche Unterstützung oder Unterstützung per SMS. Nach Abschluss der Aufgabe fühlten sich jene Menschen glücklicher, die persönlich unterstützt wurden. Selbst auf den ersten Blick bedeutungslose Gespräche im Büro über das Wetter oder Sport würden den Menschen helfen, hat die US-Psychologin Susan Holtzman herausgefunden. „Wir sind einfach von Natur aus soziale Wesen“, sagte Holtzman dem Magazin Time. „All diese kleinen Interaktionen verstärken unser Gefühl, dass wir miteinander verbunden und Teil von etwas Größerem sind.“

Das Ende der klassischen Gemeinschaftsbüros ist wohl auch deshalb für Arbeitsforscher wie Werner Eichhorst oder Christian Ernst noch längst nicht in Sicht. „Aber die Krise hat vielen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, gezeigt, dass das Homeoffice funktionieren kann, auch wenn sie es vorher vielleicht nicht geglaubt hätten“, sagt Eichhorst und schlussfolgert: „Sobald die Krise bewältigt ist, werden die Leute zurückkommen, vielleicht nur nicht fünf Tage in der Woche, sondern drei.“

Auch Christian Ernst sieht für die Zukunft ein „hybrides Arbeiten“, bei dem sich beide Seiten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, absprechen, wie es gerade am besten passt. Für Anna Scheuermann wäre das tatsächlich die beste Lösung, um Arbeit und Familie besser vereinbaren zu können. Und auch Luisa Wandig kann sich vorstellen, öfter mal zu Hause zu arbeiten. Aber: „Wenn ich wieder ins Büro kann, mache ich drei Kreuze“, sagt sie.

Der Plan von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), bis zum Herbst einen Gesetzesentwurf zum Recht auf Homeoffice vorzulegen, dürfte noch kontrovers diskutiert werden. Die Arbeitgeber fühlen sich von generellen, verpflichtenden Plänen erwartungsgemäß bevormundet. „Mit Homeoffice allein kann die Wirtschaft nicht am Laufen gehalten werden“, sagte etwa der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, im April. Aber ganz ohne Homeoffice geht es ganz offensichtlich auch nicht mehr – mit oder ohne Lockdown.


© Constantin Wißmann