Auf Spurensuche

Laura leidet unter Depersonalisation. Egal, was sie tut, es fühlt es sich an, als würde sie von weitem jemand anderen beobachten. Das macht ihr Leben ziemlich kompliziert.

jetzt-Magazin der Süddeutschen Zeitung (Titelgeschichte)
Juli 2015

Ich kenne Laura seit zehn Jahren. Und ich schwöre, dass keine Sekunde mit ihr langweilig war. Als ich sie mitten in der schlimmsten Nacht meines Lebens anrief, wegen einer anderen Frau natürlich, sagte sie nur, dass sie jetzt vorbeikommen würde. Sie setzte sich ins Auto, fuhr durch halb Berlin, nahm mich in den Arm, verfluchte diese elende Herzensbrecherin und schaute sich mit mir bescheuerte Youtube-Videos an, bis ich wieder lachen konnte. So eine ist das.

Ich dachte immer, dass wir alles über einander wüssten, die besten und die schlechtesten Geschichten des anderen kennen. Bis sie mir vor etwa zwei Jahren erzählte, dass sie sich während vieler unserer gemeinsamen Momente nicht sicher war, ob sie existiert. „Das hat nichts mit dir zu tun“, sagte Laura, wie immer in schwarz und weiß gekleidet, in einer der Bars, in die wir ständig gingen. „Aber ich habe oft das Gefühl, als würde ich in einem Video agieren. Mein Körper macht zwar irgendwas und das auch bewusst, aber er ist mir dabei so fremd, als wäre er ein Roboter.“

„Also, wenn ich jetzt deine Hand anfasse, dann gehört sie gerade nicht zu dir, oder wie?“, fragte ich. Sie schaute mich lange mit ihren braunen Knopfaugen an. Wie sich das genau anfühle, das könne man kaum in Worte fassen, sagte sie. Darüber wäre sie schon oft verzweifelt.

„Was ist bloß mit mir los?“ – diese Frage habe sich immer tiefer in sie hineingebohrt, jahrelang. Wenn sie sang und ihre Stimme sich wie die eines anderen anhörte; wenn sie mit Freunden zusammen saß und redete und lachte und es sich auf einmal anfühlte, als würde ihr ganzer Körper langsam entschwinden, bis es ihr so war, als säße sie auf dem Mond und würde mit einem Fernrohr auf die Welt und sich selbst schauen. Darüber sprechen konnte sie mit niemandem, auch mit mir nicht. „Aus Scham“, sagte sie. Da war ich fast beleidigt. „Du musst dich doch vor mir nicht schämen“ – „Das weiß ich ja. Eigentlich. Aber ich konnte das ja selbst kaum verstehen. Wie sollten das dann andere können? Ich habe deswegen lieber Leute gemieden und das versteckt.“

Im Internet begann sie selbst nach einer Diagnose zu suchen. Erst fünf Jahre später hatte sie Gewissheit, dass sie mit ihrem Problem nicht allein ist. Dass noch viele andere Menschen unter ähnlichen Zuständen leiden. Und dass es einen Namen dafür gibt: Depersonalisation.
Eine schwache Form von Depersonalisation haben die meisten Menschen wohl schon einmal erlebt. Nicht umsonst gibt es Redensarten wie „neben sich stehen“.

Dabei – und bei der ihr ähnlichen Derealisation – handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine der ersten psychischen Erkrankungen detailliert beschrieben wurde. Der österreichische Psychoanalytiker Paul Schilder definierte sie 1914. „Trotzdem ist sie bis heute wenig erforscht“, sagt Matthias Michal. Er ist Oberarzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. Er leitet den einzigen Standort in Deutschland, wo das Phänomen intensiv erforscht und behandelt werden. Depersonalisation nennt Michal es, wenn der Patient sich selbst in einer allumfassenden und verwirrenden Form als fremd und unwirklich empfindet; von Derealisation spricht man, wenn er seine Umgebung als irreal wahrnimmt.

Eine schwache Form davon haben die meisten Menschen wohl schon einmal erlebt. Nicht umsonst gibt es Redensarten wie „benebelt sein“ oder „neben sich stehen“. Problematisch wird es, wenn diese Zustände sehr oft oder gar permanent auftreten und die Betroffenen diese Redensarten nicht symbolisch verwenden, sondern sie vollkommen ernst meinen. Und das tun erstaunlich viele. Nach Auswertungen der Krankenkassen sind zwar nur 0,007 Prozent der Menschen in Deutschland davon betroffen. Psychologische Studien aus Deutschland und den USA schätzen die tatsächliche Zahl aber weit höher ein. „Wir gehen von knapp einem Prozent der Gesamtbevölkerung aus“, sagt Michal. Das entspricht etwa der Anzahl von Magersüchtigen oder Epileptikern.

Diese extreme Lücke zwischen Vorkommen und diagnostischer Erfassung der Störung ist fast so rätselhaft wie sie selbst. „Wahrscheinlich hat das mit dem Krankheitsbild zu tun“, sagt Michal. Selbst schwerste Zustände von Depersonalisation und Derealisation seien den Patienten oft nicht anzusehen. Sie litten ja auch nicht unter einer psychotischen Krankheit wie etwa Verfolgungswahn. „Die Betroffenen wissen, dass ihr Empfinden nicht real ist“, sagt Michal. Manche meistern sogar die anspruchsvollsten Berufe scheinbar mühelos, auch wenn sie dabei das Gefühl haben, den Verstand zu verlieren. Was ihnen explizit fehlt, können sie oft selbst nicht genau erklären. Das Problem ist, dass es viele Psychiater, Therapeuten und Professoren auch nicht können. Die meisten, sagt Michal, wüssten nicht einmal, dass die Diagnose der Depersonalisationsstörung überhaupt Teil der gängigen internationalen Klassifizierungssysteme ist.

Für die Betroffenen hat das schlimme Folgen. Sie fühlen sich alleingelassen mit der sich immer verschlimmernden Angst, ganz und gar die Kontrolle über ihren Verstand, ihr Verhalten und letztendlich den Kontakt zu den Mitmenschen zu verlieren. Oder sie werden falsch behandelt. „Oft werden die Symptome zu Unrecht als Schizophrenie oder Depression interpretiert und den Patienten werden Medikamente verabreicht“, sagt Michal. Mit dem Resultat, dass sie nicht nur unter der Störung, sondern auch noch unter den Nebenwirkungen der Psychopharmaka leiden.
Laura weiß, wovon Michal spricht. An den Beginn ihrer Leidensgeschichte kann sie sich noch genau erinnern. An Neujahr 2007 war sie 21 Jahre alt und hatte die Zukunft vor sich. Eigentlich ein Grund zu feiern. Ihr machte das Datum aber eher Angst. Sie wusste nicht, wohin in ihrem Leben. Also wollte sie sich Silvester „so richtig abschießen.“ Bei der ersten Party war ich auch dabei, Laura schien gut drauf zu sein. Dank Alkohol und Koks, wie sie mir später sagte. Als ich schon längst im Bett war, hatte sie gerade erst angefangen. Morgens um halb zehn schluckte sie in einem Hamburger Club eine Ecstasy-Pille. Sie wusste nicht genau, was es war, aber irgendwie fühlte es sich anders an als sonst, wenn sie Drogen genommen hatte. Naja, dachte sie sich. Einmal richtig ausschlafen, wieder runterkommen, dann wird das schon wieder.

Aber es wurde nicht. Bis heute nicht. Sie suchte mehrere Therapeuten auf, keiner konnte ihr helfen. Wenn selbst die sie und ihren Zustand nicht verstehen, was sollen dann ihre Familie und ihre Freunde dazu sagen? Laura begann, ihren Zustand zu verheimlichen. Konzentrierte sich darauf, normale Dinge zu tun und nicht aufzufallen. Das gelang ihr gut. So gut, dass auch ich nichts von ihrem Zustand ahnte. Klar, mit den seelischen Dingen war das nicht immer einfach bei Laura. Aber sie hatte ja auch viel durchgemacht, dachte ich. Und dieses Tiefschürfende, ständig Hinterfragende mochte und mag ich ja auch an ihr.

Als sie mir in der Bar davon erzählte, verstand ich vieles besser. Zum Beispiel, warum ihre Beziehungen immer in die Brüche gingen. Warum immer sie es war, die ging. Sie schaffte es einfach nicht, emotionale Bindungen aufzubauen. „Ich habe mich von meinen Freunden getrennt, ohne eine Träne darüber zu vergießen“, sagt sie. „Auch bei meinem aktuellen Freund empfinde ich im Grunde gar nichts. Ich habe mich zwar verliebt, aber es ist wie immer: In dem Moment, wo ich mit der Person zusammen bin, löst sich das auf. Ich kann jemanden verlassen, einfach so – auch wenn ich ihn eigentlich sehr gern habe, bedeutet es mir trotzdem nichts. Ich erschrecke selbst darüber, wie kühl ich dann bin.“

Auch in Ausbildung und Beruf hatte sie immer Probleme, trotz ihrer vielen Begabungen. Sie begann ein Kunststudium in Hamburg, hatte Erfolg und brach es ab. Sie besuchte eine private Popmusikschule in Berlin, reüssierte und brach sie ab. Sie nahm ein Album auf mit Liedern, die mehrere Produzenten begeisterten, und stellte es nie fertig.

Das ganze Dilemma fasst sie so zusammen: „Auf mein künstlerisches Schaffen hat das einen sehr schlechten Einfluss, was mich vielleicht am traurigsten macht. Weil der Zustand oft so dominierend ist, dass er einen emotional abschottet. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich nur darüber Musik schreibe. Und man kann doch nicht die ganze Zeit darüber schreiben, dass man nichts empfindet für die Person, die neben einem liegt.

Einen kleinen Durchbruch gab es, als sie 2012 bei einer Studie der Berliner Charité zum Thema Depersonalisation mitmachte und ihr bewusst wurde, dass dort genau beschrieben wurde, was mit ihr los war. Ein Jahr später, mit 27 Jahren, begann sie eine elfwöchige stationäre Therapie in der Universitätsmedizin Mainz.

Dort erklärten ihr die Therapeuten, dass die Ecstasy-Pille zwar der Auslöser gewesen sein könnte. Letztlich aber würden, wie bei anderen seelischen Störungen auch, mehrere Faktoren eine Rolle spielen: biologische, soziale und psychologische. Wie sie zusammenwirken, sei noch nicht ausreichend erforscht, sagt Michal. Er erlebe es aber häufig, dass die Betroffenen keine innige Beziehung zu den Eltern hätten. Dass diese emotional nicht so präsent waren oder sie sogar beschämten oder demütigten. So hätten die Kinder im Lauf der Zeit gelernt, sich von ihren eigenen Gefühlen zu distanzieren. Lauras Eltern trennten sich früh, vor allem das Verhältnis zu ihrem Vater ist ein kompliziertes Wirrwar aus Unterstützung und Erwartungen, die sie nicht erfüllen konnte. Sie sagt: „Sobald ich an meinen Vater dachte, hatte ich das Gefühl, meine Beine werden immer kürzer. Bis ich zum Zwerg wurde.“

In der Klinik besteht die Therapie aus einer Mischung von Gesprächen und Achtsamkeitsmeditationen. Dabei geht es darum, sich des Atems und nacheinander jedes Körperteils bewusst zu werden. „Wir wollen den Patienten so das nötige Rüstzeug für das weitere Leben mit der Störung mitgeben“, sagt Michal. Und auch wenn viele Betroffene verzweifeln und es 20 Jahre dauern könnte: „Der Zustand ist veränderlich.“

Laura ist sich da nicht so sicher. Immerhin, da war dieser eine Moment. Sie sprach mit einer Therapeutin über das Verhältnis zu ihren Eltern. Die fragte immer weiter nach, bohrte immer tiefer. Dann wollte sie wissen, wie es jetzt mit den Symptomen sei. „Und da waren die weg. Da konnte ich zum ersten Mal seit sieben Jahren klar sehen. Auf einmal fühlte sich alles an wie ich.“ Zwar war nach drei Sekunden schon wieder alles vorbei. „Aber diesen Moment zu erleben, das war die Therapaie fast schon wert.

Jetzt überwiegt bei Laura ein Gefühl der Enttäuschung. Man merke eben, dass sich die Forschung noch am Anfang befindet, sagt sie. „Eigentlich sitzen alle da und keiner weiß, was man machen soll.“ Sie fühlt sich, als hätte sie in Mainz eine Box öffnen können, die die ganze Zeit geschlossen gewesen war. Darin konnte sie einige Dinge über sich und ihr Leben sehen, die ihr vorher verborgen gewesen waren. „Aber ich weiß nicht, wohin mit all den Sachen, die ich gefunden habe. Deshalb schiebe ich sie weg – was die Angelegenheit eher wieder verschlimmert.“

Zumindest muss sie jetzt nicht mehr danach suchen, was sie kaputtgemacht hat. Erst einmal ist sie weggefahren. Weg von all dem Scheitern in Deutschland, weg von ihren Eltern. In Schottland will sie mit 29 als Musikproduzentin ein neues Leben anfangen. Sie glaubt nicht, dass es irgendeine Therapie gibt, die ihr helfen kann. Trotzdem: Der Aufbruch hat sie gestärkt, und wenn sie länger drüber nachdenkt, dann auch die Klinik. Dort ist ihr klar geworden, dass sich ihr Zustand vielleicht nie verbessern wird – und schon gar nicht von heute auf morgen. Dass sie sich dafür aber nicht schämen oder verstecken muss. „Ich erkenne jetzt an, dass es mir nicht gut geht und dass ich damit zu leben habe. Bislang habe ich so getan, als wäre alles gut, auch wenn eigentlich alles scheiße war."

Und manchmal, manchmal wird es sogar besser. „Es ist, als würde eine Mauer um mich aufbrechen und Licht hineinlassen. Ich kann mich wirklich freuen. Wenn ich die Sonne sehe, kann ich dazu etwas empfinden und sagen ‚schön’“.

Und wenn es doch mal wieder zu dunkel ist, soll sie mich anrufen, habe ich ihr gesagt. Ich komme dann vorbei. Und dann schauen wir Youtube-Videos.

© Constantin Wißmann