Raus in die Stadt

Urban Gardening ist nicht nur ein hipper Trend. Sondern auch der Versuch von Planern, Forschern und Unternehmen, städtische Flächen in Zeiten des Klimawandels neu zu nutzen. Eine Gartenschau.



enorm-Magazin (Titelgeschichte)
April 2014

Um zu zeigen, wie sich Dessau verwandelt, steigt die Stadtplanerin Heike Brückner auf den 60 Meter hohen Turm einer ehemaligen Räucherei. Auf den Treppen riecht es immer noch ein bisschen nach Wurst. Oben auf der Aussichtsplattform ist es so windig, dass man sich ducken muss an diesem Märztag, doch die Sicht auf die Stadt ist gut. Von hier aus wirkt sie ein wenig wie ein von Karies befallener Zahn. Merkwürdig zerklüftet. Der Blick wandert von grauen Plattenbauten zum absurden Prunkbau des Theaters. Neben auf Hochglanz sanierten Häusern stehen verfallene Ruinen. Und überall klaffen Lücken. Ihre Ursachen: Dessau schrumpft. Seit 1989 hat die Stadt in Sachsen-Anhalt mehr als ein Drittel ihrer einstmals 100 000 Einwohner verloren. Doch Heike Brückner sieht keine Lücken, sondern Freiräume. Platz für ein „urbanes Gartenreich“. Denn genau das sollen sich die Bürger hier erschaffen. Ihre Heimat wieder lebenswert machen. So lebenswert, dass sie bleiben wollen.

In Dessau kann jeder, der das möchte, für zehn Jahre ein Fleckchen Erde von 20 mal 20 Metern als Pate übernehmen, kostenlos. Es sind Flächen, die früher im Privatbesitz waren und keine Käufer fanden. Jetzt sind sie freigegeben, aber die Stadt will sie nicht pflegen, für Investoren sind sie nicht interessant und für Landwirte zu klein. Die Paten dürfen ihre abgesteckten Gärten weitgehend so gestalten, wie sie wollen. Der Imkerverein hat eine Bienenweide gepflanzt, ein Privatmann mit Sinn für Ruinenromantik lässt auf einer Geröllhalde Pionierpflanzen freien Lauf und eine Apothekerin pflegt hingebungsvoll einen Heilkräutergarten. Für Stadtplanerin Brückner, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bauhaus-Stiftung arbeitet, ist es „ein radikaler Neuanfang, den wir hier wagen“. Es geht darum, etwas zu vereinen, was die Stadt Jahrzehnte lang getrennt hat: Mensch und Natur.

Die Vision Grün statt Grau steht für eine Entwicklung, die in vielen Städten der Welt schon seit längerem zu beobachten ist. Urban Gardening oder Urban Farming nennt es sich, wenn Menschen auf Dächern, Brachen oder Grünstreifen Möhren ziehen und Blumen züchten. Anfangs wurden die Stadtgärtner als spleenige Großstadt-Ökos belächelt. Doch die Bewegung hat sich emanzipiert. Heute sehen Stadtplaner und Wissenschaftler in ihr eine Chance, den sozialen und ökologischen Problemen entgegenzutreten, die durch schrumpfende oder wachsende Städte entstehen. Die Forschung setzt auf urbanes Grün, um den ökologischen Fußabdruck von Städten zu verkleinern und die Ernährung ihrer Bewohner zu sichern. Nicht zuletzt hat Urban Farming inzwischen auch ökonomischen Reiz. Erste Systeme für einen professionellen Anbau von Obst und Gemüse in der Stadt sind bereits in Produktion gegangen.

Die Wurzeln des Urban Gardening sind mehr als 30 Jahre alt. Am Anfang klang die Bewegung nach Krieg: Im New York der 70er Jahre warfen „Guerilla-Gärtner“ Kugeln aus Erde, Ton und Samen, die so genannten „Saat-Bomben“, auf die wenigen vorhandenen Grünflächen. Es sollte da sprießen, wo niemand Pflanzen erwartete – und sie also auch niemand bekämpfen konnte. Eine Welle des Protest-Gärtnerns schwappte bald auch nach Deutschland. Auf einmal waren auch hier Menschen mit Spitzhacke und Gießkanne unterwegs, um Beete zu pflegen, die sie auf Verkehrsinseln ohne Erlaubnis angelegt hatten – sei es aus ökologischem Anliegen oder mit künstlerischem Anspruch. Aus vernachlässigten „Nicht-Orten” wurden so wieder Gegenden, in denen Menschen sich begegneten. Und Gemeinsamkeiten entdeckten.

Am bekanntesten sind vielleicht die in den 90er Jahren entstandenen Interkulturellen Gärten. Bundesweit gibt es derzeit etwa 200. Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte bewirten sie, haben dort eigene Parzellen. Und tauschen fleißig Saatgut oder Kochrezepte aus.

Wie Städter sich die Hände
schmutzig machen

Mit Beginn des neuen Jahrtausends drang der Modebegriff Urban Gardening in die Cafés und Szene-Bars der Städte vor. So manches Gespräch drehte sich dort dann plötzlich um umweltverträgliche Schädlingsbekämpfung, rosentolerante Unkrautverödung oder die Winterhärte von Birnen. Zahlreiche Magazine riefen das Stadtgärtnern zum Trend aus; seine Hochburg wurde zunächst Berlin. Auf dem Dach eines Parkhauses im Wedding oder auf dem Rollfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof machten sich auf einmal die Bürger die Hände schmutzig beim gemeinsamem Jäten und Pflanzen. Inzwischen gibt es in der Hauptstadt um die 200 Urban Gardening-Projekte. Das bekannteste ist der Prinzessinnengarten am Kreuzberger Moritzplatz, zwischen Sozialbauten aus den 60er Jahren, Supermärkten, einer Tankstelle und einem Kreisverkehr, an dem sich täglich die Autos stauen.
Noch 2009 breitete sich dort ein Nichts von 5600 Quadratmetern Fläche aus. Bis sich der Historiker Marco Clausen und der Filmemacher Robert Shaw mit Hilfe vieler Freiwilliger daran machten, die Brache in einen Nachbarschaftsgarten zu verwandeln. Jetzt wachsen dort mehr als 400 verschiedene Pflanzen: 16 Sorten Kartoffeln, Grünkohl und Fenchel, Malve und Kapuzinerkresse. Was die Amateur-Gärtner über den Eigenbedarf hinaus ernten, wird verkauft – zum Beispiel Jungpflanzen und Selbstgekochtes, das man in einem zur Küche umgebauten roten Überseecontainer bestellen kann. Der Prinzessinnengarten ist ein Begegnungsort in der Betonwüste. Für seinen Gründer Marco Clausen aber noch mehr. „Der Garten ist auch ein Experiment, wie wir mit Herausforderungen umgehen, die uns im Detail noch gar nicht bekannt sind: der Umgang mit Lebensmitteln, mit der biologischen Vielfalt und Ressourcen, mit dem sozialen Zusammenhang in einem Bezirk.“
Allein im Prinzessinnengarten machen dabei 30 Helfer in der Kerngruppe mit, 60 im erweiterten Kreis. 1200 interessierte Freiwillige sollen es insgesamt sein. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Machten sich die Menschen doch lange genau deswegen vom Land in Richtung Stadt auf, um endlich nicht mehr auf dem Feld arbeiten zu müssen. Doch mittlerweile scheint es in fast jeder deutschen Stadt eine Vielzahl von Leuten zu geben, die zwischen Autokolonnen und Hochhäusern die Wirklichkeit beackern möchten. Längst ist klar: Die Bewegung ist viel mehr als eine Sommerlaune. Sinn und Bestimmung des öffentlichen Raumes verändern sich – und auch die Art, wie Städter sich selbst sehen. Die Trendforscherin Silke Borgstedt vom Heidelberger Sinus-Institut spricht von „Re-Grounding“ – dem Wunsch nach neuer Erdung in einem immer komplizierter werdenden Umfeld. Die Selbstversorgung boomt angesichts ständig neuer Lebensmittelskandale und der lange noch nicht ausgestandenen Finanzkrise. Sich unabhängig zu machen von Lebensmittel-Konzernen und dem Staat – das wär`s. „Statt den Anforderungen von außen hinterher zu hecheln, möchte man Dinge selbst vorantreiben und gestalten“, sagt Borgstedt. Die Welt verstehen zu wollen ist aussichtslos – da konzentriert man sich besser auf das Naheliegende, das Mögliche, die kleine Grünfläche vor der eigenen Haustür. Der Kleingärtner als Avantgarde: alternativ, nachhaltig, und zukunftsfähig – Jägerzaun war gestern.
Die Zukunft von Metropolen wie New York, Paris, Rio de Janeiro oder Tokio sei grün, sagen Stadtplaner. Die Stadt könne in Zeiten des Klimawandels und erhöhter Energiepreise nur dann überleben, wenn die Menschen ihr auch dort wieder mehr Raum geben. Im Jahr 2050 wird fast 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Die wollen auch weiterhin Früchte und Gemüse essen, aber bis es auf ihren Tellern landet, muss es weite Wege zurücklegen – und das wird immer teurer und schadet der Umwelt. So steht es auch im aktuellen Welt-Agrarbericht. Der von 500 Wissenschaftlern im Auftrag der Vereinten Nationen und der Weltbank verfasste Report konstatiert: Die industrielle Landwirtschaft wird auf Dauer nicht in der Lage sein, die Menschheit zu ernähren – vor allem wegen ihres immensen Ressourcenverbrauchs und ihrer Abhängigkeit vom Öl. Daher lautet die Empfehlung, kleinbäuerliche Strukturen wiederherzustellen. Denn sie sind der wichtigste Garant einer nachhaltigen Lebensmittelversorgung, vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika. Einige Städte halten sich bereits daran. Mehr als die Hälfte des Gemüsebedarfs Pekings wird in der Stadt angebaut sowie verkauft und kostet weniger als die Importprodukte. In Havanna stammen sogar mehr als 60 Prozent des Gemüses aus lokalem, sogar organischem Anbau.

Wo Sonnenblumen wachsen,
hat der Mensch noch nicht
aufgegeben

Auch hierzulande befassen sich Forschungsinstitute mit der Frage, inwieweit Städte sich für den Gemüseanbau eignen. „Nahrung dort herzustellen, wo man sie essen will, oder Nahrung dort zu essen, wo man sie gerade geerntet hat, stellt eine gesunde und nachhaltige Balance von Produktion und Konsum her“, sagt Katrin Bohn vom Institut für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der TU Berlin.
Das ist das, was man in Dessau gerade versucht. Bei einem Workshop, ausgerichtet von der Bauhaus-Stiftung, kamen kürzlich rund 30 Architekten, Künstler, Energie-Experten und Urban-Gardening-Pioniere zusammen. Marco Clausen vom Berliner Prinzessinnengarten war auch dabei. Zwei Tage lang brüteten die Experten über Bauplänen, Miniaturmodellen und Skizzen. Und überlegten, wie man aus dem Dessauer Stadtquartier Leipziger Hof eine urbane Farm machen könnte. „Dahinter steht die Idee, Strategien der Nah- und Selbstversorgung unter Einsatz erneuerbarer Energien praktisch zu erproben“, sagt Heike Brückner. Noch ist das Areal ein recht trostloser Ort. Vor zu 60 Prozent leer stehenden grauen Plattenbauten steht eine zerrupfte Wiese voller Gestrüpp, mitten drin ein riesiger Stromkasten mit hässlichem Graffiti. Ideal für die Dessauer Vision, findet Brückner. In den schrumpfenden Städten Ostdeutschlands ist plötzlich zu viel davon da, woran normalerweise Mangel herrscht, nämlich an Landschaft und Freiraum.
Eine Art Vorbild für Dessau ist die US-amerikanische Stadt Detroit. Berühmt war Detroit für den Motown-Sound und Autos. Musik wird hier immer noch produziert, Autos nach dem Niedergang der amerikanischen Industrie nicht mehr. Seitdem ist die Stadt von zwei Millionen auf 700 000 Einwohner geschrumpft. Aber dafür sind inzwischen Hunderte oder Tausende von Mini-Farmen entstanden. Zusammengerechnet produzieren die freien Farmer jährlich rund 17 Tonnen Lebensmittel. Einer der Detroiter Visionäre ist der Stadtplaner Robin Boyle von der städtischen Universität. „Wo Sonnenblumen wachsen, haben die Menschen noch nicht aufgegeben“, sagt er. Nicht jeder Urban Farmer in Detroit hat eine offizielle Erlaubnis. Aber man lässt die Leute gewähren. „Detroits Zukunft wird grün sein, grüner als die jeder anderen Großstadt in den USA“, prophezeit Boyle.
Das kleine Andernach, ganz im Westen Deutschlands am Rhein gelegen, ist bereits so grün, dass man die Stadt essen kann. So jedenfalls nennt sich das örtliche Urban Gardening-Projekt: „Essbare Stadt Andernach“. Ob Erdbeeren, Salat oder Zwiebeln, die Stadtverwaltung der 29 000-Einwohner-Stadt lässt Gemüse, Obst und Kräuter auf städtischen Grünflächen anbauen – jeder darf sich beim Einkaufsbummel daran bedienen. Das Konzept hat Lutz Kosack, Sachbearbeiter im Rathaus, gemeinsam mit einigen Mitstreitern erdacht. Seitdem hat er nur noch wenig Zeit. Neugierige aus Nachbargemeinden schauen vorbei, selbst aus der Schweiz und Holland kommen Besucher, um sich die öffentlichen Gurken und Tomaten anzuschauen. Um zu zeigen, wie der Gemüseanbau in seiner Stadt funktioniert, geht Kosack nur aus seinem Zimmer im Rathaus und ein paar Schritte zu den Grünflächen an der Stadtmauer. In jeder anderen Stadt würden hier Liguster oder Rhododendron wachsen. In Andernach gedeihen dort seit einigen Jahren Zucchini und Mangold. Pfirsiche wachsen hier ebenso wie Blumenkohl. Wo früher Hunde aufs undefinierbare Grün pinkelten, gedeihen heute Kartoffeln. Und auf die pinkelt niemand.
„Ein Quadratmeter Grün war vorher nicht schöner und hat viel Geld gekostet“, sagt Kosack. Bestückt mit Nutzpflanzen, erfüllt er gleich mehrere Aufgaben: die größere Pflanzen-Vielfalt schützt die Biodiversität. Der Bürger bekommt vorgeführt, wie Kartoffeln und Radieschen wachsen. Und eine soziale Komponente haben die öffentlichen Gemüsebeete auch: Langzeitarbeitslose pflegen das essbare Grün in Andernach.
Das Konzept hat bei Bürgern wie der Stadtverwaltung erst einmal Skepsis ausgelöst. Als erstes pflanzten Kosack und seine Mitarbeiter Tomaten. „Da haben viele gesagt, die werden doch gleich wieder herausgerissen und an die Häuserwände geworfen.“ Nichts dergleichen geschah.
Heute, fünf Jahre später, ist klar, dass ein Eingriff in die Benutzeroberfläche einer Stadt nicht nur ökologische, sondern auch ganz erhebliche soziale Folgen hat. Was passiert, wenn man die Grünflächen an die Bürger zurückgibt, denen sie ja eigentlich gehören? In Andernach haben sich ältere Menschen wieder daran erinnert, was sie über Saat und Anbau wussten. Jüngere haben eine ganz neue Identifikation mit ihrer Stadt entwickelt. „Natürlich könnte irgendwann eine Horde Betrunkener durch die Beete laufen und alles zerstören“, sagt Kosack. Es ist aber in all den Jahren noch nicht passiert.
Ein für die Stadt angenehmer und völlig unerwarteter Nebeneffekt ist der Marketingfaktor. Immer wieder laufen Kamerateams durch das bisher wenig bekannte Andernach. Mehrere Führer mussten eingestellt werden, um das Interesse der Touristen zu bedienen. Auch Lutz Kosack will mit seinem Konzept Geld verdienen. Mit der Journalistin Heike Boomgaarden hat er die Beratungsagentur Wesentlich gegründet, wo er nun halbtags arbeitet. Wesentlich will das Thema Urban Gardening auch an Unternehmen herantragen. Die können zum Beispiel das Gemüse für ihre Kantine auf dem Firmengrundstück anbauen. „Es geht darum, für die Mitarbeiter ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich wohl fühlen und mit dem sie sich identifizieren können“, sagt Kosack.
Sollen sich die urbanen Gärten und Farmen wirklich durchsetzen, müssen sie auf Dauer rentabel sein. Weder in Dessau noch in Andernach bringt der Gemüseanbau bislang Geld ein. Und auch bei den unzähligen privaten Urban Gardening-Projekten geht es meist eher um eine Zusatzversorgung: Sie liefern das, was man selbst oder in der Gemeinschaft direkt verbrauchen kann. „Der nächste Schritt wird eine wirtschaftliche Perspektive sein“, sagt Andrea von Allwörden, Agrarwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität. Dafür müssen allerdings wirkliche Mengen produziert werden. Bis jetzt stammt weltweit nur ein mikroskopisch kleiner Teil der Obst- und Gemüseproduktion aus den Städten. Was vor allem an den Flächenpreisen liegt. Ein Quadratmeter Grund kostet in New York eben etwas mehr als in Kentucky.
Die Frage ist auch, ob das Gemüse aus der Stadt überhaupt gesund ist. 2012 ergab eine Studie der Technischen Universität Berlin: Straßennah angebaute Früchte sind deutlich höher belastet als Supermarktgemüse. In Bereichen mit hohem Verkehrsaufkommen würden die EU-Grenzwerte für Blei bei mehr als 60 Prozent der Proben überschritten. Viele der Stadtgärtner sind sich dessen bewusst. Im Berliner Prinzessinnengarten bemüht man sich, die abgasgeschwängerte Luft der nahen Straße von der Gartenidylle abzuschirmen. Acht Meter Freifläche und eine dichte Hecke trennen den Asphalt von den Tomaten. „Außerdem holen wir uns den Boden, auf dem die Pflanzen wachsen, von außerhalb der Stadt“, sagt Gründer Marco Clausen.
Ganz ohne Erde kommt ein anderes Berliner Anbausystem aus. Nicolas Leschke und Christian Echternacht haben es konzipiert. ECF Farmsystems heißt ihre Firma, und sie setzt auf die etwas merkwürdig anmutende Verbindung von Fischzucht und Gemüseanbau. Ihr Doppel-System heißt Aquaponic. In der ehemaligen Malzfabrik im Stadtteil Schöneberg haben Leschke und Echternacht einen Schiffscontainer aufgestellt. In ihm schwimmen die Fische in einem Becken. Ihre Ausscheidungen enthalten vor allem Ammonium, das durch einen Filter in Nitrat umgewandelt wird. Dieses nitrathaltige Wasser wird zunächst in einem Tank gepumpt und von dort aus nach oben in das Gewächshaus. Dort durchläuft es die äußeren Rinnen des Gewächshauses, in denen es die Wurzeln des Gemüses umspült. Anschließend fließt es wieder zurück in den Tank. Die Pflanzen kommen so ohne Humus und mit 80 bis 90 Prozent weniger Wasser aus als in der herkömmlichen Produktion. Das geschlossene System versorgt sich nahezu selbst, braucht weder fossile Düngemittel noch Pestizide. Und die Fische leben ohne Antibiotika.

Mensch und Natur kommen sich auch zwischen Straßen entgegen

Momentan ruht der Prototyp jedoch, in der Malzfabrik gibt es weder Fische noch Gemüse zu sehen. Doch schon bald will ECF hier en Masse produzieren. Auf 2000 Quadratmetern wollen Leschke und Echternacht eine Aquaponic-Fabrik hochziehen. Etwa eine Million Euro soll sie kosten und ab 2015 24 Tonnen Fisch und 35 Tonnen Gemüse pro Jahr produzieren. Kunden können dann vor Ort Fisch kaufen oder einen wöchentlichen Gemüsekorb abonnieren. Ihren großen Vorteil sehen die beiden Gründer im Direktvertrieb – Kosten für Zwischenhändler entfallen so. Echternacht verspricht sich einen jährlichen Umsatz von 550 000 Euro, bei knapp der Hälfte soll der Gewinn liegen. „Wir setzen vor allem darauf, dass die Leute in der Stadt nachhaltig produzierte und frische Nahrungsmittel essen wollen“, sagt Echternacht. In Sachen Frische und einem geringen CO2-Abdruck sei ihr Produkt kaum zu schlagen. „In Berlin kaufen 600 000 Leute im Bio-Markt ein, davon müssten nur 350 unser Gemüsekiste bestellen. Und die Fische können wir an die lokale Gastronomie verkaufen.“
Langfristig will ECF aber vor allem durch eine Art Franchise-System Geld verdienen und gemeinsam mit zwei Subunternehmen die Aquaponic-Farmen für Käufer planen und bauen. „Die Nachfrage ist schon jetzt viermal so hoch, wie anfangs geplant“, sagt Echternacht. Zu den neuen Kunden gehören ein Gemüsegroßhändler, der eine ECF-Farm auf seinem Dach errichten lassen will und ein Unternehmen, das sich für seine große Halle ein Gewächshaus wünscht. Klingt, als liefe alles nach Plan. Zu sehen ist von all dem allerdings noch nichts.
Für den niederländischen Agrarwissenschaftler Peter Smeets können solche Systeme ohnehin nur ein kleinen Teil dazu beitragen, die Landwirtschaft in die Städte zu bringen. „Für einen Nischenmarkt könnte das funktionieren, aber nicht, wenn man über die Welternährung spricht”, sagt er. Smeets plant in größerem Maßstab, zum Beispiel den Bau riesiger industrieller Ernährungsparks in Indien. Andere Konzepte gehen in die Höhe; sie nennen sich Vertical Farming. So sollen in Gebäudekomplexen mitten in der Stadt auf mehreren übereinander liegenden Ebenen das ganze Jahr über Früchte, Gemüse oder essbare Speisepilze erzeugt werden. Aber auch dieses System befindet sich noch in der Versuchsphase, viele der nötigen Technologien sind noch nicht ausgreift.
Smeets will darauf nicht warten. Seine Vision ist, den Großteil der Lebensmittelerzeugung und Viehhaltung in große, industrielle Zonen rund um die Städte zu verlagern. Auch daran wird hierzulande bereits geforscht. Wissenschaftler von fünf Universitäten erarbeiten gerade ein solches Konzept für das Ruhrgebiet. Die Region ist ein lange gewachsener Flickenteppich, und steckt mitten im Wandel. Noch dominieren ehemalige Bergbau-, Industrie- und Gewerbeflächen. Doch bald schon soll sich der Ruhrpott zu einer „zukunftsorientierten Kulturlandschaft“ entwickeln.
Dass das Obst auch in der Stadt vom Acker nebenan stammen kann, zeigt in Dortmund die Familie Mertin. Ihr gleichnamiger Hof befindet sich im Stadteil Grevel. Neben dem Haus warten Trecker auf ihren Einsatz, aus dem Stall riecht es nach Kuh. Nach dem Tod ihres Mannes vor vier Jahren hat Agnes Mertin gemeinsam mit ihrem Sohn Friedrich ihren Stadtbauernhof neu aufgestellt. Ein paar Getreidefelder und Kühe haben sie noch, aber die Mertins setzen jetzt vor allem auf Erdbeeren und Äpfel. „Gegen die großen Betriebe mit ihren riesigen Flächen auf dem Land kamen wir nicht mehr an“, sagen sie. Zumal ihnen die Stadt in den vergangenen Jahren die Pachtverträge über 45 Hektar Fläche nicht verlängert hat.
Jetzt kann man auf Mertins Selbstpflückfeld Erdbeeren ernten. Ihr Obst wird an ihren eigenen Ständen und in Dortmunder Supermärkten verkauft – auch die Mertins profitieren vom Hunger der Städter nach frischen Produkten direkt von nebenan. Schulklassen wandern durch die Apfelplantage. Und so zeigt sich hier in Dortmund-Grevel, wie sich Natur und Mensch auch zwischen Straßen und Häusern entgegenkommen. In kleinen Schritten hin zu einer gesunden, regionalen Ernährung und engeren sozialen Kontakten, kurzum: zu einem besseren Leben in der Stadt.



© Constantin Wißmann