Schreck der Mächtigen
Millionen Brasilianer fordern Chancengleichheit und ein Ende der Korruption. Joaquim Barbosa ist ihre Hoffnung.
Cicero
August 2013
Auf einem Richterstuhl sitzt Joaquim Barbosa, der oberste Richter Brasiliens, fast nie. Das kann er nur unter Schmerzen, der 58-Jährige leidet an Sakroiliitis, einer Entzündung der unteren Wirbelsäule. Doch ausgerechnet er hat aus Sicht vieler Brasilianer das Rückgrat, um das komplexe System des Staates zu entflechten und die Macht der Politiker, die diese oft missbrauchten, einzudämmen. Gerade die Menschen, die im Juni zu Millionen auf die Straßen zogen für ein anderes, ein besseres Land, setzen ihre Hoffnungen in ihn. Und auch Präsidentin Dilma Rousseff. Sie hat auf die Demonstranten reagiert und tiefe Verfassungsreformen angekündigt. Um Brasilien demokratischer zu machen, sagt sie. Und wohl auch, um ihre abgestürzten Umfragewerte zu retten. Dafür braucht sie den im Volk ungemein beliebten Präsidenten des Verfassungsgerichts. So ist Joaquim Barbosa, dessen Hautfarbe fast so schwarz wie seine Robe ist, der als eines von acht Kindern eines Maurers und einer Putzfrau aufwuchs und dessen erster Job an einem Gericht es war, den Saal zu putzen, zu einer der einflussreichsten Figuren Brasiliens geworden.
Dabei haben ihn die meisten Brasilianer erst im vergangenen Herbst kennengelernt. Kurz vor seiner Ernennung zum Präsidenten des Verfassungsgerichtes führte er die dessen Verhandlungen sogenannten Mensalão-Prozess, für viele der wichtigste in der Geschichte Brasiliens. Mensalão (zweites Monatsgehalt) beschreibt ein mit Millionenbeträgen ausgestattetes Bestechungsschema der Arbeiterpartei PT. Die Partei des ehemaligen Präsidenten Lula, und dessen Nachfolgerin, der aktuellen Präsidentin Dilma Rousseff. Die PT, die sich das Wohl der kleinen Leute auf die Fahnen schreibt, hatte dazu Gelder benutzt, die eigentlich für die Verbesserung des Bildungssystems oder der Infrastruktur bestimmt waren. Mit diesem System hatte sich, so sie Anklage, die PT über Jahre die Unterstützung kleiner Parteien im Parlament erkauft. 37 Personen waren angeklagt.
Systematische Bestechung in der Politik ist nichts Neues in Brasilien. Die Versuchung ist groß, weil Korruptionsskandale meistens nicht in Haftstrafen enden, sondern, nach einer Redensart, „in Pizza“. Wie bei einem Arbeitsessen machen Ankläger und Angeklagte in der Regel untereinander aus, wie die lästigen Vorwürfe so aus der Welt zu schaffen sind, dass beide Seiten gut dabei wegkommen.
Eigentlich war auch Joaquim Barbosa für so einen Deal prädestiniert. Präsident Lula hatte ihn, der in Brasilia und in Paris Jura studiert hatte und gerade in Los Angeles lehrte, 2003 ins Verfassungsgericht geholt. Auch weil Barbosa der erste Brasilianer mit schwarzen Eltern in diesem Amt sein würde. Doch Barbosa, zur Anklageerhebung 2005 wie üblich per Los unter den Verfassungsrichtern zum Vorsitz gewählt, war für solche Spiele nicht zu haben. Bissig wie ein US-amerikanischer Staatsanwalt entwirrte er Stück für Stück das komplexe Bestechungssystem. Sogar mit seinen Richterkollegen legte er sich an, die ihm zu weich waren. Als er einem unterstellte „das Vertrauen in die Justiz des Landes zu zerstören“, verließ dieser den Saal.
Die Brasilianer sahen Barbosa dabei im Fernsehen zu. Und sie verliebten sich geradezu in ihn. Hier war einer von ihnen, der sich gegen die Raffgier der Etablierten stellte und diese mit Argumentationskunst und eiserner Disziplin bezwang. Für Barbosa selbst war die breite Öffentlichkeit des Prozesses eine wichtige Motivation. „Dies ist das erste Mal, dass so eine Reihe von wichtigen Menschen vor den Augen der Gesellschaft angeklagt ist. Und die Gesellschaft hat den Fall jeden Tag beobachtet. Die Leute beschäftigen sich auf einmal mit dem Rechtssystem“, sagte er.
Und tatsächlich müssen 25 der Angeklagten nun Gefängniskost statt Pizza essen. Die höchste Strafe von mehr als 40 Jahren Gefängnis erhielt der Unternehmer Marcos Valério. Zu fast 11 Jahren Gefängnis wurde José Dirceu verurteilt. Er war Lulas Stabschef und galt als dessen potenzieller Nachfolger. Neun Jahre zuvor hatte Dirceu Barbosas Ernennungsurkunde unterschrieben. Lula selbst konnte bisher keine Beteiligung am Mensalão nachgewiesen werden. Doch Barbosa hat schon angekündigt, das Verfassungsgericht werde Vorwürfen gegen Lula nachgehen.
Joaquim Barbosa wurde durch den Prozess zum Volksheld. Das Time-Magazine wählte ihn in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt und, vielleicht die größere Ehre, im Karneval Rio de Janeiros war sein Gesicht die beliebteste Maske. Viele in Brasilien wollen ihn noch weiter oben sehen, als Präsidenten des Landes. Unter den Demonstranten hätte er nach Umfragen schon eine Mehrheit. Er selbst hat derlei Ambitionen stets von sich gewiesen. „Ich bin kein Politiker und ich glaube, ich bin sehr ungeeignet dafür wegen meiner Offenheit. Ich habe auch keinerlei Verbindungen zu politischen Parteien.“ Vielleicht sein Schutz gegen den Korruptionsbazillus, für den Brasilianer anscheinend umso anfälliger sind, umso mächtiger sie werden.
© Constantin Wißmann