Blutsbrüder

Die Beerdigung von Reggie Kray im Oktober 2000 ist ein Spektakel – als wäre er ein Popstar. Dabei waren er und sein Bruder Ronnie Gangster. In ihren besten Jahren hatten sie London im Griff

Der Tagesspiegel
10. Oktober 2010

Fast hunderttausend Menschen haben sich in der Bethnal Green Road versammelt, hier, mitten im Londoner East End, wo das Leben meist lautstark pulsiert. Doch an diesem grauen Mittwochnachmittag, dem 11. Oktober 2000, redet kaum jemand.

Andächtig warten die Leute auf sechs Rappen, die auf dem Weg zur St. Matthews Church eine schwarze Kutsche hinter sich herziehen, darin ein Sarg aus Gold und Mahagoni. Es folgen 20 schwere Limousinen, die durch die Menge schleichen, über den Dächern kreisen die Hubschrauber der Fernsehsender. „Ein Held, eine Legende“, flüstert eine Frau ins BBC-Mikrofon. Die Welt des East Ends weint, aber es ist kein Gott gestorben, nicht mal ein König. Im Sarg liegt einer der brutalsten Gangster, den das Vereinigte Königreich je gesehen hat: Reggie Kray. Übertroffen wurde er in seiner Gewalttätigkeit nur von Ronnie Kray, seinem Zwillingsbruder. Auch der ist gestorben, fünf Jahre früher. Auch sein Begräbnis begleiteten fast so viele Menschen wie das Winston Churchills.

Dass ein Gangsterpaar wie die berüchtigten Kray-Zwillinge, beide verurteilte Mörder, den Status von Nationalhelden erreichen konnte, ist eines der merkwürdigsten Kapitel der englischen Nachkriegsgeschichte. Die Faszination, die von ihnen ausging, reichte dabei weit über das East End hinaus. Die Krays prägten die Popkultur Englands beinahe wie die Beatles oder Twiggy. „Reggie Kray, kennst du meinen Namen, Ronnie Kray, kennst du mein Gesicht“ sang Morrissey, ihre Geschichte inspirierte Kult-Filme wie „Performance“ mit Mick Jagger oder Guy Ritchies „Snatch“. Und selbst Joanne K. Rowling soll bei der Figur des bösen Zauberers Voldemort an sie gedacht haben.

Wie sehr die Zwillinge vor allem in den „Swinging Sixties“ selbst Teil dieses Kosmos waren, zeigte eine Auktion im Jahr 2009. Fotos der beiden, Arm in Arm mit Frank Sinatra oder Judy Garland, und persönliche Briefe von Francis Bacon an sie erbrachten mehr als 25 000 Euro. Dass der Maler sich zu den Zwillingen besonders hingezogen fühlte, ist leicht nachzuvollziehen. Mit der Deformation des menschlichen Körpers kannten sich Reggie und Ronnie Kray bestens aus. Gewalt war das Leitmotiv ihres Lebens.

Sie werden 1934 geboren, in eine Welt der engen Straßen zwischen Klebstoff-Fabriken und Brauereien. Im Haus der Krays in der Vallance Road ist das Fenster vernagelt, das Klo im Hinterhof und Vater Charles fast nie da. Mutter Violet kümmert sich um alles. Die Zwillinge sind die Lieblinge, der sieben Jahre ältere Bruder Charlie Junior wird offen benachteiligt. Aber drinnen ist es Reggie und Ronnie viel zu eng, immer zieht es sie nach draußen in den stinkenden Moloch des East Ends, wo nicht der Staat, sondern die Zuhälter und Diebeskönige regieren.

Sie hätten auch Profiboxer werden können, mit 16 gewinnen sie ihre ersten Kämpfe, doch stattdessen schicken sie sich an, zu den englischen Schwergewichten des Verbrechens zu werden. Bevor sie mit der Schule fertig sind, gelten sie schon als „Somebodies“ unter den zahllosen „Nobodies“ und befehligen eine Gang loyaler Untergebener.

Zuerst werden die Zwillinge von den etablierten Crooks und Guv’nors, den Ganoven und ihren Bossen, nicht ernst genommen. Doch sie lassen sich von niemandem etwas sagen. Einmal suchen fünf Mitglieder der führenden Malteser-Gang Ronnie in einem Pub auf und fordern Schutzgeld von ihm. Ronnie zieht ohne zu zögern ein riesiges Schwert hinter der Theke hervor, rennt wild um sich schlagend auf die finsteren Gestalten zu, verfolgt sie die Straße hinauf bis zu ihrem Auto und zerhackt den Kotflügel und mehrere Fenster. Danach lassen die Malteser die Krays in Ruhe.

Auf der Straße und von zahlreichen Gangsterfilmen haben die Brüder gelernt: Image ist alles. Stets tadellos rasiert, lassen sie ihre Haare täglich trimmen, sie kleiden sich bei den feinsten Schneidern der Savile Row ein. Immer die gleichen dunkelblauen Anzüge mit scharf gekniffenen Tüchlein in der Brusttasche und eng geknoteten Krawatten. Reggie Kray wusste warum. Glamour verleihe einem den Anschein der Unberührbarkeit, schreibt er später, das mache den Leuten Angst. „Und wenn die Leute vor dir Angst haben, kannst du eigentlich alles machen.“

Die Zwillinge scheinen keinen Schlaf zu kennen und können an einem Abend 40 Flaschen Bier trinken, ohne dass man es merkt. Dabei reden sie nur, wenn es nötig ist. Mit großem Effekt. „Um sie herum war stets eine abschreckend selbstbewusste Aura, die einen immer glauben ließ, sie wären sofort zu allem fähig“, erinnert sich ein Gangmitglied. Und das sind sie. Reggie bietet seinen Opfern am liebsten mit der rechten Hand eine Zigarette an, bevor er mit der linken zuschlägt. Ein offener Kiefer bricht einfacher. Ronnies Spezialität ist das Chelsea Smile. Dabei steckt er einen Säbel zwischen die Zähne derer, die ihm auf die Nerven gehen. Dann zwingt er sie, zuzubeißen.

Mit Mitte zwanzig regieren die Krays das East End. Sie eröffnen mit dem „Regal“ ihren eigenen Club, alle anderen, Kneipen, Geschäfte, Autowerkstätten, müssen an ihre „Firma“ Schutzgeld zahlen. Sie importieren das italienische Mafia-System nach England, hecken ihre Pläne im Haus von Mama Violet aber nicht bei Spaghetti und Rotwein, sondern bei Tee und Keksen aus. Der dritte Bruder Charlie sitzt immer mit am Tisch, richtig mitmischen darf er nicht. Die Zwillinge halten ihn für „ein bisschen weich“. Polizei und Justiz müssen den Familienbetrieb weitgehend gewähren lassen, niemand traut sich, gegen die Zwillinge auszusagen, und wenn doch, hat einer der beiden immer ein Alibi.

Doch für die Außenwelt kaum wahrnehmbar treten die trennenden Merkmale zwischen den Zwillingen immer deutlicher hervor. Schon früher war Reggie der Intelligentere und Schnellere gewesen, doch der langsame, fast schüchterne aber noch grausamere Ronnie dominiert ihre Beziehung. Ronnie will Ruhm und Anerkennung, genau wie sein Vorbild Al Capone.

Reggie macht ihm alles nach, die Anzüge, die Gewalttätigkeit, doch eigentlich sehnt er sich nach dem, was er „ein gutes Leben“ nennt: Ein Haus im Grünen, eine Frau, Kinder – mit alldem kann Ronnie nichts anfangen. Er ist offen schwul, im traditionsbewussten East End eine Seltenheit. Oft wirft er Reggie vor, dass dieser seine Homosexualität nur verstecke.

Reggie beginnt sich um seinen Bruder zu sorgen, will ihm aber vor allem alles recht machen. Das wird immer schwieriger. Ronnie, der sich jetzt „The Colonel“ nennt, entwickelt stark paranoide Züge, legt sich ein großes Arsenal von Waffen zu. Einem Freund vertraut Reggie an: „Was soll ich mit Ronnie nur machen, er ruiniert uns. Wir müssten ihn loswerden, aber wie könnte ich das tun?“ Irgendwann dreht Ronnie durch und schlägt einen Mann halb tot, Reggie steht daneben. Diesmal hat keiner ein Alibi. Ronnie wird zu drei Jahren Haft verurteilt.

In dieser Zeit blüht Reggie auf. Er eröffnet einen neuen Club, den er ohne Waffen und Radau, aber mit kaufmännischer Vernunft führt, er scheint sich eine legale Existenz aufzubauen. Doch er wird den Schatten des Bruders nicht los, nicht umsonst nennt er das neue Hauptquartier „The Double R“. Ronnie geht es im Gefängnis immer schlechter. Bald wird bei ihm paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Als er offiziell entlassen wird, ist er ein fettes Wrack mit tiefen Augenrändern. Mit seinem Bruder verwechselt ihn nun niemand mehr.

Doch nach außen geht die Erfolgsstory weiter. Die Krays machen jetzt das große Geld mit Waffengeschäften, Geldfälscherei und Kunsthandel, fliegen für ihre Deals nach Nigeria und in die USA. Ihre Anziehungskraft beschränkt sich nicht auf das Kriminellen-Milieu. Die Swinging Sixties haben in London begonnen, und keiner schmeißt bessere Partys als die Krays. Einheimische Sternchen wie Barbara Windsor und Hollywood-Stars wie Judy Garland finden es unheimlich aufregend, sich mit den verruchten aber schnieken Jungs aus der Unterschicht einzulassen. Ihr Imperium wächst, dehnt sich in den feinen Londoner Westen aus, mit vielen Clubs und Casinos, die bald sogar Politiker frequentieren. All das hält Star-Fotograf David Bailey fest, seine Bilder ikonisieren Ronnie und Reggie als Gentlemen der Unterwelt. „Das waren die besten Zeiten unseres Lebens“, schrieb Ronnie Kray später, „die Beatles und die Stones regierten die Pop-Musik, die Carnaby Street regierte die Modewelt, und wir regierten das ganze verdammte London.“ Doch harmlos sind sie darüber nicht geworden. Sonny Liston, der Boxweltmeister im Schwergewicht, wird nach einer Party einmal vom betrunkenen Ronnie gebeten, ihn nach Hause zu fahren. „Nie habe ich mich so gefürchtet wie in diesen 30 Minuten“, sagt Liston später.

Die Zwillinge scheinen nach außen eine unbezwingbare Einheit zu sein, in Wirklichkeit entwickeln sie sich weiter auseinander. Dafür ist vor allem Frances Shea verantwortlich, ein 16-jähriges Mädchen, in der der 27-jährige Reggie seine ersehnte Cockney-Prinzessin gefunden zu haben glaubt.

Ronnie sieht in ihr hingegen die ultimative Bedrohung seiner Beziehung zu Reggie, den finalen Schnitt in der Nabelschnur. Auch er hat glutäugigen Marokkanern überquellende Liebesschwüre gemacht. Doch von solchen Gefühlen hat er sich längst verabschiedet. Sie haben keinen Platz in seinen großen Plänen. Eine Hellseherin prophezeit ihm, dass er die Reinkarnation von Attila dem Hunnenkönig sei, das ist gerade so der richtige Maßstab. Irgendwann muss er mal anfangen mit dem Morden, diese Idee lässt ihn nicht mehr los. Und in Frank Cornell findet er sein Opfer. Der ist Mitglied der rivalisierenden Richardsons-Gang. Cornell nennt Ronnie eine „fette Schwuchtel“, ein Fehler. Ein Jahr später, am 6. März 1966, trinkt er allein an der Bar eines Pubs. Da kommt Ronnie durch die Tür, geht auf Cornell zu und schießt ihm mit seiner 9-Millimeter-Mauser-Pistole dreimal in den Kopf. Das ganze East End kennt die Geschichte am nächsten Tag, der Polizei sagt keiner was.

Natürlich hilft Reggie seinem Bruder bei der Vertuschung der Tat, aber eigentlich will er sich um Frances kümmern. Sie ist 21, als er sie heiratet. Die Hochzeit war das Ereignis des Jahres im East End gewesen. Doch Ronnie lässt seinen Bruder nicht los. „Das Geschäft hat Vorrang“, lautet das Mantra, daran muss sich Reggie halten. Für Frances ist da kein Platz. Aber allein kann Reggie sie nicht lassen, seine Angst ist zu groß, dass dieser Traum ihm aus den Händen gleitet. Er verbietet ihr zu arbeiten, Auto zu fahren und ohne Begleitung shoppen zu gehen. Dieses Leben hält die 21-Jährige nicht aus, sie kehrt zu ihren Eltern zurück, „The good life“, für Reggie hat es acht Wochen gedauert. Am 6. Juni 1967 macht das Paar noch einen Versuch, sie buchen eine Reise nach Ibiza. Gegen Mittag des nächsten Tages wird Frances tot aufgefunden.

Sie ist an einer Überdosis des Schlafmittels Phenobarbital gestorben. Es war wohl Selbstmord, wenngleich bis heute viele glauben, dass Ronnie sie vergiftet hat. Zur Beerdigung kommt er nicht. Er und sein Bruder sind jetzt wieder vereint, und zusammen sind sie unschlagbar, glaubt Ronnie. Doch dafür darf Reggie kein Feigling mehr sein, muss beweisen, wie hart er ist, so hart wie er. Reggie muss töten. Das Opfer ist schon gefunden: Jack McVitie, der wegen seiner Halbglatze auch im Bad seinen Hut nicht absetzt und deshalb von allen „Jack the Hat“ genannt wird. Wie Frank Cornell ist auch er eher ein kleines Licht in der Unterwelt, der es aber wagt, die Krays übers Ohr zu hauen und darüber auch noch zu prahlen. „Der ist für dich“, sagt Ronnie zu Reggie.

Seit dem Tod von Frances sitzt Reggie wie früher mit seinem Bruder zu Hause rum. Er hat alles gegeben, um ein gutes Leben zu führen, und es hat ihm nur Leid gebracht. Jetzt ist er zu allem bereit. Sie locken McVitie zu einer angeblichen Party, doch es erwarten ihn nur die Zwillinge zusammen mit vier Gangmitgliedern. Reggie rennt auf McVitie zu, hält ihm eine Pistole an den Kopf, drückt ab – nichts passiert. Die Pistole klemmt. Reggie zögert einen Moment. „Töte ihn, töte ihn“, schreit Ronnie und Reggie gehorcht. Alles, was er in seinem Leben erreicht hat, hat er mit Gewalt erreicht, der Rest liegt in Scherben. Reggie nimmt ein Fleischermesser und sticht immer wieder auf den schreienden McVitie ein, nagelt ihn durch dessen Hals am Boden fest.

Ronnie ist glücklich. Die Morde sollten zeigen, dass die Zwillinge unberührbar sind und sie endgültig zu großen Gangsterbossen machen. Doch ausgeführt haben sie die Taten wie ihre eigenen nicht besonders geschickten Auftragskiller. Und das will der Staat nicht mehr mit ansehen.

Schon lange ist Detective Superintendent Leonard Read, genannt „The Nipper“ (die Zange), hinter den Zwillingen her. Er ist einer der besten bei Scotland Yard und mit allen Kompetenzen ausgestattet. Und diesmal hält selbst die sonst so feste Mauer des Schweigens im East End nicht stand, es gibt einfach zu viele, die etwas wissen. Am 9. Mai 1968 schlägt Read zu. Ronnie und Reggie Kray, dazu Bruder Charlie und 22 Mitarbeiter der Firma werden in der Morgendämmerung festgenommen Ein Jahr später werden beide nach dem aufwendigsten und spektakulärsten Prozess in der englischen Nachkriegs-Kriminalgeschichte zu lebenslänglich verurteilt. Und England will ein Exempel statuieren. Der Oberste Richter empfiehlt, dass die Haft nicht kürzer als 30 Jahre dauern soll.

Die Zwillinge sind 35, als sie ihre Haft antreten. Ronnie wird bald in die psychiatrische Anstalt von Broadmoor verlegt. Dort sitzt er ketterauchend im Maßanzug, malt immer das gleiche Bild, ein Haus und einen Baum, und schreibt simple Gedichte. Reggie wandert von Gefängnis zu Gefängnis, trainiert vor allem mit seinen Hanteln. Die Zwillinge sehen sich nur selten. Ronnie stirbt in der Haft, Reggie wird drei Wochen vor seinem Tod entlassen.

Manch einer vermutet, dass sie im Gefängnis mehr Geld verdient haben als während ihrer Gangsterkarriere. Die Tassen und T-Shirts mit ihrem Konterfei und ihre zahlreichen Memoiren verkaufen sich noch heute prächtig. Als die Krays hier regierten, herrschte noch Ordnung, sagen immer noch viele im East End. Und viele, inzwischen ältere Damen schwärmen von den smarten Jungs in den schicken Anzügen.

© Constantin Wißmann