Der Außerirische
Eine Totgeburt, die keine ist. Eine Mutter, die ihr eigenes Kind adoptiert. Ein Schwarzer zwischen den Fronten des Nordirlandkonflikts. Das Leben des Tim Brannigan
Dummy-Magazin
September 2010
Am 10. Mai 1966 bringt Peggy Brannigan eine Lüge zur Welt. Die Entbindung verläuft ohne Komplikationen: Die ganze Familie hat sich vor und im Geburtszimmer versammelt, die Stimmung ist gedrückt. Die Männer rauchen auf dem Flur stumm ihre Zigaretten, die Frauen stehen ums Bett herum und heulen. Peggy Brannigan wird ihre Lüge von diesem Tag an 17 Jahre lang hochpäppeln, hegen und pflegen. Mutterliebe ist stärker als Liebe zur Wahrheit. Besonders in einem Land, in dem alle noch fest an das Gebot glauben, dass man nicht lügen soll und das dementsprechend verlogen ist. Die Mutter weiß, dass sie in diesem Land keine andere Wahl hat, als ihren Sohn zu verleugnen. Gott sei Dank glauben Peggy Brannigan alle, dass sie eine Totgeburt hatte. Hier liegt sie nun und kann nicht anders.
Mit ihrem Leben, wie sie es bisher gelebt hat, ist Peggy schon länger durch. Ihr Mann Tom, mit dem sie drei Söhne hat, hangelt sich von Job zu Job. Das kleine enge Reihenhaus in der Arbeitergegend kann sich die Familie kaum noch leisten. Mit 23 Jahren ist Peggys Dasein weitgehend frei von Freude. Vor diesem Hintergrund muss ihr die Begegnung mit einem Arzt aus Ghana in dem Tanzcafé von Beechmount vorkommen, als ob plötzlich jemand wieder die Farbe reingedreht hat. „Er war groß, elegant, attraktiv und sehr schwarz“, erzählt sie später. Andere Frauen wollen nicht mit dem „Nigger“ tanzen, Peggy Brannigan schon. Er ist so gebildet, charmant und weltläufig. So ganz anders – ein Außeririscher. Nach ein paar Wochen ist sie schwanger. Doch mit dem Kind im Bauch wächst auch die Angst. Jeder wird sofort erkennen, dass das Kind nicht aus der Ehe mit Tom stammt. Ihr Mann Tom weiß es schon. Er glaubt Peggy, die sagt, die Frucht in ihrem Bauch stamme von einem fremden Schwarzen, der sie vergewaltigt habe. Tom schlägt vor, es abzutreiben. Peggy will nicht – angeblich weil das in Nordirland verboten und gegen ihren Glauben sei. Tom wendet sich ab. Die Ehe geht in die Brüche. Auch der Arzt aus Ghana wendet sich ab, beendet die Affäre. Peggy bleibt nur noch, einen Plan zu schmieden, der so verrückt und riskant ist, dass er eigentlich nicht funktionieren kann.
Sie muss in ihrer Verzweiflung schon sehr entschlossen gewirkt haben. Wie hätte sie es sonst geschafft, die Ärzte und Schwestern des Krankenhauses zu ihren Erfüllungsgehilfen und Mitwissern zu machen? Immerhin setzen die ihren Job aufs Spiel. Doch der erste Teil des Plans funktioniert: Nur ein paar Meter vom Geburtszimmer aus, in dem jetzt alles um das verstorbene Baby heult, versorgen die Schwestern einen gesunden Jungen mit dunklem Teint. Er heißt Tim, so wie seine Mutter Peggy Brannigan es wollte. Und das Klinikpersonal wird der Mutter sogar beim zweiten, noch riskanteren Teil des Plans helfen. Fünf Tage nach seiner Geburt schmuggeln sie Tim aus dem Krankenhaus in ein Waisenhaus und geben die Botschaft, die Peggy so wichtig ist, an die Leitung des Waisenhauses weiter: Der Junge darf vorerst auf keinen Fall zur Adoption freigegeben werden.
Diesen Zusatz hätte sie sich auch sparen können. Ein schwarzes Kind will zur damaligen Zeit in Nordirland sowieso niemand haben. Niemand außer Penny Brannigan, die schon in den Wochen nach der Geburt oft in das Waisenhaus kommt, um den Jungen zu besuchen und ihn von Zeit zu Zeit auch mit nach Hause nimmt. Der Legende tut das keinen Abbruch. Sie sucht halt Ersatz für ihre Totgeburt, das hilft ihr hinweg über die Tragödie, denken alle. Derweil wird Tim zu einem Teil der Familie. Bis Peggys Bruder gut ein Jahr nach der Geburt endlich den erlösenden Vorschlag macht, den zu machen Peggy sich selbst nie getraut hätte – zu groß war die Angst aufzufliegen: „Hör mal Peggy, du verstehst dich so gut mit Tim, adoptier ihn doch einfach.“
Tim Brannigans erste Erinnerung ist, wie er aus Angst vor einer britischen Patrouille zurück ins Haus läuft. Es ist schwer genug in einer Welt aufzuwachsen, wo man vor jedem Verlassen des heimatlichen Viertels eine Durchsuchung über sich ergehen lassen muss, wo Schusswechsel übern Gartenzaun so normal sind wie die Frage, ob man mal etwas Draht für eine Bombe habe. Der einzige schwarze Junge weit und breit zu sein, macht es nicht einfacher. Immer Eusébio oder Pelé auf dem Fußballplatz sein zu müssen, ist da noch harmlos. Tim Brannigan wird von britischen Soldaten auch schon mal als „verfickter Irennigger“ angeschrien. Isoliert, gehänselt und deswegen wütend, so fühlt er sich oft. In seiner Nachbarschaft ist er zwar beliebt und akzeptiert. Aber nur oberflächlich. Dass auch seine Freunde nicht frei von Rassismus waren, dass ihr Rassismus sogar so tief sitzt, dass er niemandem mehr auffällt, das wird offenkundig, wenn es gegen die Briten geht. Einmal beschimpfen sie ein paar schwarze S, dann drehen sie sich zu ihm um und sagen: „Nichts gegen dich, Tim.“
Dass er adoptiert ist, dessen ist sich Tim von früh an bewusst. Nicht einer seiner vier Brüder hat einen so schönen Teint. In ganz Beechmount, dem katholischsten Stadtteil der nordirischen Hauptstadt Belfast, sieht keiner so aus wie er. „Werde ich auch mal so weiß sein wie ihr?“, beginnt er mit drei Jahren zu fragen. Was ihn mit zunehmender Reife mit seiner eindeutig helleren Familie eint, ist die politische Haltung, die sich im Konflikt mit den Protestanten und britischen Besatzern schnell schärft: Wie die ganze Familie und alle seine Freunde ist auch er hundertprozentiger Republikaner. Aber es hilft nichts, der Spiegel stellt täglich klar, wer hier wirklich dazugehört und wer nicht.
Seinen leiblichen Vater, den eleganten Arzt aus Ghana, soll er mal, ohne es zu wissen, am Gartenzaun gesehen haben. Doch um ein positives Rollenmodell fürs Schwarzsein zu entwickeln, dafür reicht so eine flüchtige Begegnung natürlich nicht. Tim Brannigan flüchtet sich erst mal ganz in seine irische Identität. Das Haus seiner Mutter diente oft als Versteck für Waffen. Die IRA-Männer mit ihren Masken und Uniformen kommen ihm wie Götter vor. Tim liest alles über den Konflikt, gerade weil ihm immer wieder vorgehalten wird, als Schwarzer sei das doch nun wirklich nicht sein Problem. Bald weiß er besser Bescheid als die meisten. Als sich der Kampf nach dem Tod des Hungerstreikers Bobby Sands radikalisiert, rennt er lieber bei allen Protestmärschen mit statt über den Fußballplatz. Mitglied der IRA wird Tim Brannigan nie. Doch als er 23 Jahre alt ist und gerade von seinem Politikstudium in Liverpool zurückgekehrt ist, klopft es nachts an seine Tür. So wie er es in seiner Adoptivfamilie gelernt hat, öffnet er den Göttern der IRA die Tür und versteckt ihre Waffen. Irgendjemand gibt der Polizei einen Hinweis. Als das Leben gerade richtig losgehen soll, muss Tim Brannigan für vier Jahre ins Gefängnis.
Politik dominiert in jenen Tagen alles in Nordirland. Auch mit seiner Mutter diskutiert Tim oft über den Konflikt, so wie er überhaupt über alles mit ihr redet. Die Beziehung ist so eng, dass viele witzeln, die beiden seien wie ein Liebespaar, ohne Sex natürlich. Mit Tim geht sie Klamotten kaufen und fragt ihn, wie ihm ihr neuer Rock gefalle. Als er nach der Schule eine Ausbildung zum Friseur abschließt, färbt er ihr regelmäßig die Haare. Nicht immer freut sich Tim Brannigan über dieses enge Verhältnis. Immer hat er das Gefühl, strenger behandelt zu werden als seine Brüder. Er ahnt nicht, dass er seine Mutter jeden Tag an ihre lang zurückliegende kleine Flucht aus dem farblosen nordirischen Leben erinnert. Auch ihre übertriebene Freude darüber, dass er als einziger der Brüder an die Universität geht, will sich ihm nicht ganz erschließen. Und dass er es so besonders schwer mit seinen ersten Freundinnen bei ihr hat. Keine kann es Peggy Brannigan recht machen. Die eine redet zu viel Unsinn, die andere kaut zu viel Kaugummi.
Geständnis
Doch ab heute ist alles anders, dazu reicht ein Satz. Er kommt von der Frau, die ihn aufgezogen hat und die er abgöttisch liebt. Sie sitzt neben ihm auf dem Sofa und ist ein bisschen angetrunken. „Tim“, sagt sie, „du bist nicht adoptiert, ich bin deine Mutter und du bist mein Sohn“.
Von seinen Freunden, die auch irgendwann von ihren Eltern zur Seite genommen wurden, kennt Tim nur das Gegenteil. Das streng katholische Irland ist voller Heuchelei. Viele illegitime Kinder wurden von ihrer richtigen Mutter verlassen und ins Waisenhaus gegeben. Adoptivsöhne und -töchter gibt es in fast jeder Familie. Tim kennt die Wunden, die das aufreißt, umso glücklicher war er über das, was er an jenem Abend hörte. Die Frau, die er immer Mama genannt hatte, war wirklich seine Mutter aus Fleisch und Blut. Doch warum hat sie ihm das nie gesagt? „Das ist eine kleine Geschichte, die ich dir ein anderes Mal erzähle“, seufzt sie. Tim lässt nicht locker. „Erzähl sie mir jetzt!“ „Also gut. Du weißt ja schon, dass dein Vater ein Arzt war.“
Tim Brannigan, heute 44 und Journalist, spricht offen und direkt über alles, nur nicht gern über andere Frauen als seine Mutter. Weder in seinem Buch über sein Leben noch im Gespräch. Er wohnt noch immer teilweise in ihrem Haus, 2004 verstarb sie 71-jährig an einem Hirntumor. Er ist Single, hat mehrere Langzeitbeziehungen hinter sich. Klar möchte er auch irgendwann Kinder. Aber die richtige Frau sei eben noch nicht dabei gewesen oder die Umstände hätten einfach nicht gestimmt. Nach mehreren Nachfragen kommt aber der Satz, „Sie hat schon einen sehr hohen Standard gesetzt.“ Die Heldin seines Lebens, das sei seine Mutter für ihn. „Irgendwie hatte ich das auch schon gefühlt, dass sie meine richtige Mutter sein muss.“
Nachtrag:
Auf ihrem Sterbebett hatte Tim Brannigan seiner Mutter versprochen, nach seinem Vater zu suchen. Doch erst drei Jahre später versuchte er es ernsthaft. Ein Journalist bei der BBC, dem Brannigan seine Geschichte erzählt, schlägt vor, eine Dokumentation über die Suche zu machen. Bald findet Brannigan heraus, dass sein Vater Michael Ekue heißt und lange Zeit mit seiner Frau und fünf Kindern im feinen Südbelfast wohnte, nur fünf Meilen entfernt von ihm, und doch in einer ganz anderen Welt.
Vorsichtig tastet sich Brannigan weiter voran, irgendwann gelingt es ihm, einige seiner Halbgeschwister zu kontaktieren. Sie erzählen ihm, dass sein Vater wieder in Ghana lebt. Brannigan arrangiert ein Treffen und fliegt nach Accra. In einer Hotellobby trifft er einen großen, perfekt gekleideten Mann, der sich als Dr. Michael Ekue vorstellt. Mit 40 Jahren sieht Tim zum ersten Mal seinen Vater. Das Gespräch verläuft schleppend. Als sein Vater sagt, sein größter Erfolg sei, alle seine Kinder auf Privatschulen geschickt zu haben, verspürt Brannigan einen Stich. Weder er noch seine Mutter haben je Geld von ihm gesehen. Dennoch empfindet er das Treffen als einen guten Start. Doch danach bricht der Kontakt wieder ab. Am 1. Weihnachtstag 2008 kommt auf einmal ein Rückruf. Brannigan fragt ihn, wie er seine Mutter kennengelernt habe. „Ich muss das nicht beantworten, das ist zu persönlich“, sagt sein Vater. Seitdem hat Tim Brannigan weder von ihm noch von seinen neuen Halbgeschwistern je wieder etwas gehört.
© Constantin Wißmann