Entwicklungshilfe für Großbritannien

Sechs Briten trainieren für Olympia: Beim Krisenklub TuSEM Essen sammeln sie erstklassige Erfahrung.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
27. März 2009

Es ist der Traum, den wohl jeder britische Junge schon einmal hatte. Ein Spiel in der besten Liga der Welt, gegen einen ehemaligen Meister und Double-Gewinner, gegen Stars, die er nur aus dem Fernsehen kennt. Kurz vorher sagt ihm sein Trainer „Du spielst“. Und ohne Furcht legt er los, lenkt das Spiel seiner Mannschaft und erzielt sogar drei Tore. Für Chris Mohr ist dieser Traum wahr geworden. Der Haken an der Sache: Er ist zwar Brite, aber Handballspieler.
Davon gibt es nicht viele auf den Inseln. Handball ist dort nicht einmal eine Randsportart, im Vergleich dazu würde man Rugby in Deutschland als Massenbewegung bezeichnen. Beim Wort „Handball“ denken die meisten Briten an 1986 und den Fußballstar Maradona.
Jetzt aber tummeln sich Chris Mohr und fünf weitere Briten in der Bundesligamannschaft des deutschen Traditionsvereins TuSEM Essen. „Es ist einfach phantastisch hier, ich habe noch nie so intensives Arbeiten erlebt und so schnell so viel gelernt.“ Mohr wirkt immer noch ein wenig ungläubig, wenn er darüber spricht; als ob er sein Glück kaum fassen kann. Dass es so kam, hat mit mehreren Faktoren zu tun, die er nicht beeinflussen konnte. Die Vergabe der Olympischen Spiele 2012 an London, die Finanzkrise im Essener Handball und im Allgemeinen: Wäre all das nicht zusammengekommen, Mohr und seine Landsleute wären nicht hier, einige würden nicht einmal Handball spielen.
Als Gastgeber erhält Großbritannien automatisch einen Platz im olympischen Handballturnier. Das Problem: Außer wenigen Exzentrikern im Norden gab es kaum Spieler. Eine Blamage kommt für die stolze Sportnation aber natürlich nicht in Frage. Also wurde eine Task-Force gegründet und von der Regierung mit umgerechnet etwa einer Million Euro im Jahr ausgestattet. Scouts suchten bis in die untersten europäischen Ligen hinein nach Handballern mit britischen Vorfahren. Die Ausbeute war eher unbefriedigend, aber der Elan der Organisatoren, angeführt von „Performance Manager“ Lorraine Brown, noch lange nicht gebrochen.
Casting-Show für Handballer
Nichts lag da näher im Mutterland der Talent-Shows, als eine solche für Handballspieler zu initiieren. Bei einer Art „England sucht den Handball-Superstar“ sollten vor allem körperlich große Sportler gefunden werden. Die Aussicht, bei Olympia das einstige Imperium zu vertreten, lockte 4000 Menschen an, auch wenn „einige nicht einmal Handballschuhe dabei hatten“, wie sich einer erinnert. Nach einem langwierigen Aussiebverfahren waren 18 gefunden, die in einer im dänischen Arhus gegründeten Akademie mit intensivem Training auf olympischen Erfolg getrimmt werden sollten.
Doch dem ehrgeizigen Projekt drohte der jähe Abbruch, als die internationale Finanzkrise auch den britischen Sport erfasste. Um zwei Drittel wurde der Etat der Handballer gekürzt. Aber dann kam der TuSEM Essen ins Spiel.
Win-win-Situation für alle Beteiligten
Der hat mit der eigenen Finanzkrise zu kämpfen, seit November vergangenen Jahres bestimmt ein Insolvenzverwalter die Geschicke beim Traditionsverein Essen will unbedingt die Saison zu Ende spielen, um dann eine Lizenz für die zweite Liga beantragen zu können. Die meisten Profis haben den Verein indes schon verlassen. Da las Manager Stefan Kriebitke im Internet von den britischen Handballspielern und ihren Problemen und fackelte nicht lange. Mit Trainer Kristof Szargiej reiste er nach Arhus, und sie pickten sich die Besten heraus: Chris Mohr, Dan MacMillan, Merlin Braithwaite, Chris McDermott, Sebastian Prieto und Ciaran Williams. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. „Wir sind sehr glücklich, dass unsere Jungs jetzt in der besten Liga der Welt Erfahrung sammeln können“, sagt Performance-Managerin Brown. Und Essen kann den Spielbetrieb aufrechterhalten.
Nun spielen und wohnen die sechs zusammen im Ruhrgebiet, die Kosten übernimmt der britische Verband. Die Ausbildung liegt jetzt in den Händen von TuSEM-Trainer Szargiej. Vor allem an Wettkampfpraxis mangelt es den Neuen, die laut Szargiej „ungefähr Viertliga-Niveau“ haben. Also muss er an die Grundlagen gehen, vor allem in Sachen Taktik und Technik. Oft unterbricht er die Aktionen und nimmt sich die Spieler einzeln zur Brust, auch Mohr. „Er ist ja eigentlich Rugby-Spieler und geht oft noch zu hektisch ans Werk“, analysiert der Pole. Eines fehlt den Briten aber nicht: Einsatzwille. „Einer hat sich mal die Nase gebrochen, am nächsten Tag kam er wieder zum Training“, erinnert sich Kriebitke.
Spiel für Spiel Richtung olympischer Traum
Für Rückraumspieler Williams ist das nichts Besonderes. „Der Kampfgeist liegt uns Briten einfach im Blut. Wir geben alles, um aus dieser einmaligen Chance das Beste zu machen“, sagt er. Auch wenn er und seine Landsleute praktisch ohne Siegchance in jedes Spiel gingen - während ihrer Ausbildung und der zahlreichen Niederlagen hätten sie gelernt, die positiven Dinge aus jeder Bundesliga-Begegnung zu ziehen. Und natürlich sei es eine besondere Ehre, gegen internationale Stars anzutreten. „Aber wir sind nicht hier, um uns nur Autogramme abzuholen. Letztlich sind das auch nur Handballspieler“, sagt Ciaran Williams.
Spiel für Spiel nähern sich die sechs Briten der Verwirklichung ihres olympischen Traums. „Unser Ziel sind die Top Acht, dazu müssen wir zwei Länder unserer Gruppe schlagen. Das wird sehr schwer, aber wir können es schaffen“, sagt Mohr. Völlig absurd? Vielleicht. Aber Mohr sieht keinen Grund, warum der Traum eines britischen Handballspielers, der ihn bis in die beste Liga der Welt geführt hat, aufhören sollte. Und sollte er wahr werden - Handball würde auf den Inseln wohl mehr sein als ein Regelverstoß beim Fußball.


© Constantin Wißmann