Was wisst ihr denn schon?

Erstmal bei Wikipedia schauen: Das Online-Lexikon ist bei Lehrern und Journalisten ziemlich unbeliebt – das zeigt vor allem, dass es viel richtig macht

fluter
Ausgabe 31, Sommer 2009

„Der U-Bahnhof Spittelmarkt ist ein Bahnhof der Line U2 der Berliner U-Bahn. Er befindet sich unter dem gleichnamigen Platz beziehungsweise der sich anschließenden Wallstraße im Bezirk Mitte.“ An- und Abführungszeichen müssen sein, denn diese Informationen stammen aus Wikipedia. Und was ahnungslose Amateure dort so zusammentragen, damit sollte äußerst vorsichtig umgegangen werden. Das sagen jedenfalls viele Lexikon-Herausgeber und Lehrer. Auch die von Jaan-Cornelius Kibelka am Berliner Heinrich-Schliemann-Gymnasium. Dort macht der 19-Jährige gerade sein Abitur, bei Wikipedia hat er vor vier Jahren als damals jüngstes Mitglied angefangen. Er hat den Artikel über den Spittelmarkt geschrieben. „Mein Lieblingsbahnhof“, sagt Jaan-Cornelius.
 
Überhaupt haben Bahnhöfe es ihm angetan. „U-Bahn Berlin“ ist das Meisterstück unter den rund 150 Artikeln, die er bei Wikpedia veröffentlicht hat. Bücher über U-Bahnen füllen einen Meter seines Regals, er ist auch schon mal nach Budapest gefahren, nur um die Bahnhöfe anzuschauen. „Die Arbeit macht mir einfach Spaß, und wenn man sein Wissen weiter vermittelt, tut man ja irgendwie was Gutes“, sagt Jaan-Cornelius. Geld gibt’s dafür nicht, stattdessen meistens ein Schulterzucken und manchmal Kritik. Ein Lehrer hat sein Engagement noch nie gelobt. „Wenn die überhaupt mit mir darüber sprechen, geht es immer nur darum, ob man Wikipedia wirklich vertrauen kann.“ Dass das schnell verfügbare Online-Nachschlagewerk bei Pädagogen nicht besonders beliebt ist, ist verständlich. Schon ärgerlich, wenn bei einer Hausaufgabe alle von Wikipedia abschreiben. Nach Umfragen nutzen es 95 Prozent aller Schüler.
 
Dass die Seite so einen Einfluss bekommt, hätte Jimmy Wales nie zu träumen gewagt. Der Börsenhändler mit abgebrochener Promotion interessierte sich sehr für open-source-software und die fast vergessene Philosophin Ayn Rand. In den 20er Jahren vertrat sie die These, dass die Realität feststehend und objektiv erkennbar ist. Bei einer online-Diskussion über Rand lernte Wales Larry Sanger kennen und gemeinsam starteten sie das Online-Lexikon „Nupedia“, an dem sich bezahlte Experten beteiligen sollten, durchaus mit dem Ziel, Profit zu machen. Aber 2001 war die erste Internet-Blase gerade geplatzt, niemand wollte in so eine Geschäftsidee investieren, weil sich abzeichnete, dass die Menschen kein Geld für Texte aus dem Internet ausgeben wollen.
Irgendwann kam Wales die Idee, das Nachschlagewerk für die Masse zu öffnen. Sanger, der sich inzwischen von Wales losgesagt hat, schlug vor, dafür „Wiki“-software („wiki“ heißt auf hawaiianisch „schnell“) zu benutzen, die das leichte Editieren von Webseiten ermöglicht. Das Ergebnis war Wikipedia, das Lexikon, das mittlerweile locker einen dreistelligen Millionenbetrag wert ist. Weil aber die Beteiligten bis beute nichts von Kommerz wissen wollen, sind die Artikel weiterhin frei verfügbar, das Lexikon ist als Stiftung organisiert. Bis 2006 sammelte die Wikimedia Foundation Spenden für Wikipedia unter dem Vorsitz von Wales. Jetzt fungiert er als unbezahlter Ehrenpräsident eines Führungsgremiums, dessen sieben Mitglieder teils von der Community gewählt und teil von Wales bestimmt sind. Der Gründer, der entgegen vieler Vermutungen laut dem renommieren Wirtschaftsmagazin „the economist“ kein Millionär geworden ist, weiß bis heute nicht, "ob ich damals die dümmste oder die klügste Entscheidung meines Lebens getroffen habe."
 
Reich ist er nicht geworden, doch dafür so etwas wie das Gesicht der international am siebthäufigsten besuchten Website. Die englische Wikipedia enthält fast drei Millionen Beiträge, die deutsche – die zweitgrößte – nähert sich der Million-Marke. Und nicht nur Schüler nutzen Wikipedia. Der Tourist, der etwas über die Kleinstadt Eutin wissen will, wird dort ebenso fündig wie ein Kranker, der vor dem Arztbesuch wissen will, was überhaupt ein Radiologe ist. Es ist ohne Frage das umfassendste Wissensprojekt der Geschichte, bei dem, das ist das Entscheidende, im Prinzip jeder mitmachen kann. Die Menschen nutzen die Freiheit, sich selbst aufzuklären, ein Urtraum der Aufklärung, Immanuel Kant hätte gejubelt – das sagen die Einen. Kritiker wie der Online-Pionier Andrew Keene sprechen von einem intellektuell irreführenden Kult des Amateurs, der dort zelebriert würde. Robert McHenry, ehemaliger Chefredakteur der Encyplopaedia Britannica, vergleicht den virtuellen Konkurrenten gar mit einer öffentlichen Toilette. Da wisse der Nutzer auch nicht, wer dort zuvor welchen Dreck hinterlassen habe. Allerdings schnitt Wikipedia bei einem von der Zeitschrift „nature“ angestellten Vergleich mit der Encyclopaedia Britannica gleichauf ab: 2005 verglich „nature“ 42 wissenschaftliche Artikel beider Lexika, und die Fehlerquoten unterschieden sich kaum. Und auch bei Vergleichen mit anderen Lexika schneidet Wikipedia stets gut ab – was den traditionellen Lexikon-Verlagen Alpträume beschert. Die einst 2000 Euro teure Gesamtausgabe der Britannica gibt es heute bereits für 30 Euro als CD-Rom, der deutsche Brockhaus wird in Zukunft nur noch online erscheinen.
Ein anderer entscheidender Unterschied: Während andere Nachschlagewerke Fehler erst nach einem langwierigen Prozess und in einer späteren Ausgabe korrigieren können, reagiert Wikipedia sofort. Es dauert im Schnitt drei Stunden, bis erkannte Fehler korrigiert werden. Und auch in puncto Aktualität setzt Wikipedia Maßstäbe, weil Neuigkeiten sofort hinzugefügt werden.
 
Das kann jeder, doch jeder wird auch überwacht. Jaan-Cornelius ist einer von 329 sogenannten Administratoren in Deutschland, die das tun. Er kann Einträge löschen und Seiten überwachen. Administrator wird nur, wer lange dabei ist und sich aktiv beteiligt hat. Gewählt wird er von den erfahrensten Autoren. Erst kürzlich hat Jaan-Cornelius bei einem Artikel über eine portugiesische Stadt den Namen des Bürgermeisters verbessert, nachdem er sich bei mehreren Quellen, vor allem online, abgesichert hatte. Sollte jetzt jemand anderes Zweifel anmelden, muss er eine Diskussion beginnen. In Härtefällen kann das bis zum „Arbitration Committee“ gehen, eine Art Schiedsgericht, dem in Deutschland zehn Mitglieder angehören. Früher traf Wales noch eigenmächtig Entscheidungen, doch auch sein Einfluss wurde beschränkt. Neulich schrieb er einen Eintrag über ein Restaurant, den ein anderer Administrator wegen „Irrelevanz“ kurzerhand löschte. Um „relevant“ zu sein, muss ein Artikel mehrere Kriterien erfüllen. Auch sie sind das Ergebnis langwieriger Diskussionen, wie alles bei Wikipedia.
 
Bei Artikeln über „Pflanzenmorphologie“ oder „Leitungsschutzhalter“ wird natürlich wenig diskutiert, anders bei „George W. Bush“, „Homöopathie“ oder „Globale Erwärmung“, die teilweise 50.000 Buchstaben enthalten (dieser Artikel hat gut 8.000), sieht das schon anders aus. Um die Auswüchse zu kappen, hat Wikipedia mittlerweile reagiert und einen Teil des Konzepts der steten Erweiterung aufgegeben. Bei vielen Seiten funktioniert der Menüpunkt „bearbeiten“ nicht mehr, sie sind gesperrt. Schwieriger ist der Umgang mit PR-Firmen und Lobbyisten, die auch mitmachen. Von einem Rechner des Stromkonzerns RWE etwa kam die Meldung, ein Störfall im AKW Biblis hätte „wieder einmal bewiesen, dass das Kraftwerk sehr sicher ist.“ Für solche Fälle wurde die Spezialsoftware „Wikiscanner“ entwickelt, die präzise zuordnen kann, von welchen Rechnern aus Manipulationen vorgenommen werden.
 
Der Vorteil, dass Wikipedia das Wissen möglichst vieler Menschen sammelt, ist zugleich auch der größte Vorwurf: So bezeichnet der amerikanische Computerwissenschaftler und Künstler Jaron Lanier solche Ansätze im Internet als „Digitalen Maoismus“. Nur eine Minderheit verfüge über Fachwissen, die aber von der Mehrheit korrigiert werden könne. So setzten sich Vorurteile stärker durch. Sein australischer Kollege Mathieu O'Neil pflichtet ihm bei: „In Wahrheit setzen sich häufig die hartnäckigsten durch, beziehungsweise diejenigen, die den Jargon und die Vorschriften am besten beherrschen.“
Doch Wikipedia reagiert auf solche Beurteilungen ganz offen: „Der Gefahr, dass die Inhalte der Wikipedia nicht den Wissensstand der Gesellschaft entsprechen, ist auch durch administrative Vorgänge und korrektives Eingreifen von Autoren nicht vollständig beizukommen", heißt es auf der Seite. Und noch immer begreift sich das Nachschlagewerk als „Projekt für eine Enzyklopädie“, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit stelle. Das versuchen sie auch den Schülern und den skeptischen Lehrern beizubringen. Immer öfter gehen Wikipedia-Mitglieder an die Schulen, mit dicken Ordnern im Gepäck. Gefüllt sind sie mit Beispielen dafür, wie fehlerhaft Wikipedia tatsächlich ist. Soviel Ehrlichkeit würden man sich von den Journalisten, die Wikipedia immer wieder als Ort des Halbwissens beschimpfen, wünschen.

© Constantin Wißmann